David Gardner, Chef-Leitartikler und Associate Editor der Financial Times beschäftigt sich in seinem Buch Letzte Chance mit einem der wohl konfliktreichsten Schauplätze der Welt, dem Nahen und Mittleren Osten. Täglich berichten die Medien über einen geforderten Siedlungsbaustopp der besetzten Gebiete, vom erneuten Beschuss Israels, von einer neuen Runde der Nahostverhandlung, von der Fortsetzung der Nahost-Friedensgespräche, von Dschihadisten, von Gotteskrieger, von der Al-Qaida, vom Krieg der Hisbollah, von zahlreichen Bombenattentaten, von einem iranisch- nuklearen Bedrohungsszenario.
Ist Samuel Huntingtons Theorie des Kulturkampfes eine unabwendbare Grundgewissheit? Oder gibt es noch eine Chance auf Frieden? Gardner geht in seinem Buch dieser Frage nach, in dem er die politischen Dimensionen des vorherrschenden Konfliktes zwischen den arabischen Ländern und dem Westen aufzeigt.
Das israelisch-palästinensische Problem als Alibi
Im Fokus des Konfliktes steht für Gardner das israelisch-palästinensische Problem. Sein Vorwurf an Israel lautet, dass hinter der Triebfeder des Zionismus eine radikale expansive Siedlungspolitik steckt, die einem imperialen Neokolonialismus gleicht. Für die Umsetzung dieses imperialen Faktors suggerieren die Israelis auf der einen Seite Verhandlungswillen und bedienen sich auf der anderen Seite eines Systems von "hemmungsloser Gewalt". Beispielhaft nennt der Autor hier den Frieden von Camp David und die Osloer Verträge, die lediglich der Gebietssicherung vom Westjordanland bis zu Ost- Jerusalem dienen sollten. Ob der Sinai-Feldzug oder der Libanon-Krieg, ob Angriffe seitens der Palästinenser aus Gaza, immer ist Israel der Aggressor. Ein Aggressor, der unverhältnismäßig auf belanglose palästinensische Angriffe reagiert und von Seiten der Westmächte insbesondere der USA ohne Vorbehalt unterstützt wird. Gardner stellt fest, dass die USA mit der israelischen Siedlungspolitik Verbindungen zur eigenen Pionierzeit ziehen. Zudem wirkt die Israel-Lobby, die die amerikanischen Interessen den israelischen unterordnet. Eine Lobby, die begünstigt durch den Kalten Krieg, seit dem die amerikanische Außenpolitik diktiert. Das Problem der palästinensischen Flüchtlinge ist damit immer weiter in die Defensive gedrängt worden. Damit die Flüchtlingsfrage überhaupt noch zum Politikum werden konnte, blieb laut Gardner als einziges Mittel die Gewalt, die sich in der politischen Auseinandersetzung in der Hamas und Hisbollah zeigt. Friedensverhandlungen werden seitens Israel und den USA systematisch blockiert. Der Vorwand die Hamas und die Hisbollah müssen Israel erst anerkennen ist für Gardner völlig haltlos, denn Israels Grenzen sind bis heute nicht eindeutig definiert.
Westliche Klientelpolitik stützt die arabischen Tyrannen
Die nur temporär für politische Stabilität betriebene Klientelpolitik des Westens, die arabische Autokratien und Tyrannen unterstützt, fördert das Erstarken der Schiiten und damit einen tiefgreifenden Radikalisierungsprozess der Islamisten, mit dem die religiöse Legitimation von Gewalt einhergeht. Letztlich entsteht ein Dschihadismus als Folge westlicher Arroganz und der instabilen arabischen politischen Systeme, die durch ihre fehlgeleitete Modernisierung und um ihre Machtprivilegien zu sichern, den Religiösen immer mehr Zugeständnisse machen und so die Autokratie in eine Theokratie treiben. Den westlichen politischen Entscheidungsträgern bietet sich nur eine einzige Perspektive, um den Dschihadisten den Nährboden zu entziehen und die heißt, Förderung des Aufbaus von Zivilgesellschaften. Mittel hierfür sind der Dialog mit den radikalen Kräften, arabischen Despoten zukünftig die Unterstützung verweigern, Israel nicht mehr vorbehaltlos beistehen.
Der Westen ist selber schuld
Der Westen muss jetzt handeln und zwar sofort sagt Gardner. Denn der Widerstand gegen den westlichen Einfluss nimmt im arabischen Raum eine immer stärker werdende fundamental-religiöse Komponente an. Ein militanter Islamismus ist das Ergebnis an dem wir, der Westen, laut Gardner selbst schuld sind. Daher sollten wir uns bitte schön auch nicht über Terroranschläge wie die vom 11. September 2001 auf das World Trade Center oder wie die auf der Ferieninsel Djerba aufregen. Der entscheidende Faktor ist, der Westen unterstützt aus politisch-strategischen Gründen die arabischen Despoten, benutzt sie für die eigenen ökonomischen und temporären Stabilisierungsziele. Die arabischen Despoten wiederum nutzen die westliche Überheblichkeit und einseitige Unterstützung Israels im israelisch-palästinensischen Konflikt zum eigenen Machterhalt aus.
Der israelisch-palästinensische Konflikt als Gefährdung des Weltfriedens
Laut Gardner muss eine bedingungslose Unterstützung Israels, die sich letztlich nur aufgrund der Geschichte herleitet, endlich aufhören. Gardner sagt uns auf der einen Seite die arabischen Autokratien driften ab in militante Theokratien, die teilweise faschistoide Züge tragen. Er scheint vergessen zu haben, dass Israel die einzige Demokratie im Nahen- und Mittleren Osten ist. Einzig, wie Gardner es vorschlägt, auf den Dialog zu setzen, ist extrem naiv. In seiner Analyse bestimmt Gardner den israelisch-palästinensischen Konflikt zum bestimmenden Faktor für den Unfrieden im Nahen- und Mittleren Osten. Denn wenn es diesen Konflikt nicht mehr gäbe, könnten die arabischen Autokraten ihn auch nicht als Alibi für ihr eigenes Versagen nutzen, dann würden die vielen Muslime auch nicht in die Arme der Dschihadisten getrieben, dann wäre der Aufbau von Demokratien möglich und der Westen wäre auch nicht mehr vom Terror bedroht. Ein schönes Bild, was Gardner zeichnet. Ein Bild, das seiner Meinung nach nur durch Israel verhindert wird.
Imperialer Zionismus
Eine gut beginnende Analyse der politischen Dimension des Nahen- und Mittleren Ostens wird plötzlich zu einer Feindbildprojektion und zu einem antisemitischen Feldzug. Man könnte vielleicht vermuten, dass er sich seiner provozierenden Tragweite nicht bewusst ist. Wären da nicht die vielen antisemitischen Stereotype, die sich geradezu aneinander reihen. Ob es der Verweis auf die "Ausschwitzkeule" ist, die letztlich den Westen lähmt, sich gegen Israel aufzulehnen oder die vielbeschworenen Israel-Lobby, die die amerikanische Außenpolitik diktiert. Oder die israelische Siedlungspolitik, die für Gardner Ausdruck eines imperialistischen Zionismus ist. Imperialismus unterstellt aber ganz bewusste Expansionsgelüste und das Erringen von Vorherrschaft.
Er bezichtigt Israel einer gezielten Kolonialpolitik im arabischen Raum. Zionismus heißt aber nicht Kolonialismus. Er kritisiert zudem Israels perfide Haltung bei den Friedensverhandlungen. Ob das Abkommen von Camp David oder die Osloer Verträge. Israel heuchelt einen Friedenswillen, verfolgt aber nur das Ziel, seine Siedlungspolitik fortzusetzen.
Israel ist unser Unglück
Hier begegnet es uns wieder. Das antisemitische Stereotyp in Form des "scheinheiligen" Juden. Auch wenn Gardner jeden Verdacht des Antisemitismus leugnet und sagt, diese Leute sollten sich schämen Israelkritiker auf diese Art und Weise auszubremsen, so können jedoch die Fakten nicht übergangen werden. Bereits im Berliner Antisemitismusstreit aus dem Jahr 1879 wird den Juden vorgehalten, dass sie durch ihr Verhalten eine Abneigung provozieren, die letztlich in der Aussage mündet "die Juden sind unser Unglück". Eine Aussage, die vom nationalsozialistischen Hetzblatt "Der Stürmer" wohlwollend aufgegriffen wurde. Auch Gardner überträgt diese Sicht unreflektiert in seine Analyse über den Nahen und Mittleren Osten, indem er Israel nicht nur mehr als Friedensblockierer sondern als Unruhestifter ausmacht. Ein Unruhestifter, der nicht nur für das Leid der palästinensischen Flüchtlinge verantwortlich ist, sondern für die weltweite Bedrohung durch die Dschihadisten.
Gefährliche Ignoranz
Gardner geht in seiner Analyse bis an die Wurzeln der Konfliktregion heran und bringt die zahlreichen politisch- strategischen Verflechtungen zwischen den westlichen Nationen und der arabischen Staaten an die Oberfläche. Er zeigt, welcher permanenten Gefahr der Weltfriede dadurch ausgesetzt ist. Es könnte ein wirklich wichtiger Blick hinter die Kulissen der politischen Entscheidungsträger sein, wäre dieser nicht durch die parteiische und unverantwortlich antisemitisch geführte Argumentation verzerrt.
David Gardner, Letzte Chance, Der Nahe und Mittlere Osten am Scheideweg, Aus dem Englischen von Eva Dempewolf und Regina Schneider, Titel der englischen Originalausgabe Last Chance. The Middle East in the Balance, 2010 by Primus Verlag, Darmstadt, 246 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, EUR 24,90, ISBN 978-3-89678-829-0
© Soraya Levin