Der Schatten des Windes

Carlos Ruiz Zafóns Meisterwerk »Der Schatten des Windes« entfaltet sich in einer eindringlichen, bildhaften Sprache und zieht den Leser in die düsteren Tiefen Barcelonas der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Ich-Erzähler, der elfjährige Daniel Sempere, steht im Zentrum der Geschichte, die im Jahr 1945 beginnt und 1966 endet. Die Erinnerungen an seine verstorbene Mutter, die kurz nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs an Cholera starb, liegen wie ein Schatten über seiner Seele.

Der Autor entführt den Leser bereits auf den ersten Seiten in eine Welt mit Geheimnissen. Es ist das Barcelona, ein Ort, an dem der aschgraue Himmel oft über den schmalen, gepflasterten Straßen lastet und die Gespenster der Vergangenheit unermüdlich umherwandern.
Die Stimme Zafóns lenkt den in den Roman eingetauchten Lesenden durch die Buchhandlung von Daniels Vater, der den Jungen zum »Friedhof der vergessenen Bücher« führt. Dieses Grabfeld der Literatur ist ein Zufluchtsort für die verstaubten Bücher, die für die Welt wie vom Erdboden verschluckt sind. Zafón stellt damit Daniels Vater als Bewahrer der Dichtung dar, der eine Brücke zwischen dem Gestern und dem Morgen baut. Zeitgleich handelt er als Mentor für Daniel, was die Vater-Sohn-Beziehung über den erzieherischen Moment hinaushebt, da die Hinführung zum »Friedhof der vergessenen Bücher« Vertrauen in Daniel voraussetzt. An diesem Punkt zeigt sich die tiefere gefühlsmäßige Bindung zwischen Vater und Sohn, die bislang durch den Verlust und die Trauer um die verstorbene Ehefrau eher verhalten war. Denn die Traurigkeit, die über Barcelona liegt, deckt ebenfalls den Vater mit seiner Vergangenheit und seinem Gefühlsleben zu und lässt ihn verstummen. Diese fehlende Nähe, nach der sich Daniel sehnt, verstärkt für den Jungen das Gefühl der Einsamkeit. 

Auf dem Bücherfriedhof atmet jeder staubbedeckte Titel, jedes vergilbte Blatt seine eigene Geschichte. Jedes dieser vom Tode gezeichneten Bücher wartet auf seinen Retter, der die Kraft hat, ihm neues poetisches Leben einzuhauchen. Der Kern der Erzählung zeigt sich in dem Moment, als Daniel ein eigentümliches Buch mit dem Titel »Der Schatten des Windes« findet. Es ist von dem geheimnisumwitterten Autor Julián Carax geschrieben. Während sich Daniel in die Welt von Carax' Roman verliert, verbindet sich sein Schicksal, mit dem des Autors. Angezogen und gefesselt von dem Roman, von dem ein Zauber ausgeht, begibt sich Daniel mit unstillbarer Entschlossenheit auf die Suche nach dem verborgenen Schreiber. Es ist erkennbar, dass die komplexe Geschichte von Julián Carax verbunden ist mit der Suche von Daniel nach seiner eigenen Identität. Ein Füller, mit dem angeblich Victor Hugo geschrieben hat, verschafft am Ende Linderung in dieser zerbrochenen Welt und bringt die Worte zu Papier, die ansonsten unaussprechlich bleiben.

Daniel versucht, die Puzzlestücke von Carax zusammenzufügen. Während sich die Frage nach dem Verbleib weiterer Schriften von Carax durch die Handlung zieht, entfaltet sich die tragische Geschichte des Autors, der entkräftet in der Dunkelheit seines eigenen Schmerzes gefangen ist. Daniel ist ebenfalls ein Gefangener. Die schreiende Stille, die ihn umgibt, ist der Widerhall seiner inneren Zerrissenheit.

Zafón verknüpft geschickt die Biografie von Julián Carax mit der von Daniel. Beide sind durch Trauer und Verlust verbunden. Einzig die Bücher mit ihren kraftvollen Worten spenden Trost in dieser Dunkelheit. Licht verschafft die Liebe in der Lebensgeschichte von Julián Carax, der abgöttisch Penelope liebt. Eine plausible Deutung wäre, dass Zafón mit Penelope auf Homers Odyssee und der treuen Ehefrau von Odysseus verweist, die für die Liebe sowie für den Verlust derselben steht.

Licht verschafft die Liebe ebenfalls bei Daniel, der verrückt nach der älteren blinden Clara ist, die Gerüchte über Julián Carax kennt. Eine mögliche Lesart wäre, dass der Autor den Namen Clara bewusst gewählt hat. Bedeutet er doch die Leuchtende.

Der Vater ist gegenüber Daniels Gefühlen zu Clara besorgt. Die Angst des Vaters scheint anzudeuten, dass er versucht, zu verhindern, dass sein Sohn in seine ermüdenden Fußstapfen des Schmerzes und der Verletzlichkeit tritt. Die von einer bittersüßen Intensität geprägte Beziehung zwischen Daniel und Clara entfaltet und schließt sich auf bizarre Art.
Im Laufe der Zeit wächst in Daniel eine Zuneigung zu Bea, der Schwester seines Freundes, heran. Der Autor zieht an dieser Stelle eine Parallele zu Julián Carax und Penelopes Romanze. 

Der Widerspruch zwischen der Jugend und den düsteren Erfahrungen der Erwachsenenwelt ist in der Liaison von Daniel und Clara deutlich erkennbar. Wo Daniel von der Hoffnung auf ein erfülltes Leben träumt, trifft er zunehmend auf das Grauen der Welt von gestern, deren Schatten die Gegenwart verdunkeln. Es sind Familienschicksale, Geheimnisse und ein kaltblütiger Polizist, der wie ein hungriges Raubtier im Hintergrund lauert. Zafón macht ihn zum Symbol für das Unrecht und für das gnadenlose Aufreißen vergangener Wunden, durch die viele Figuren im Text geprägt sind. Seine Rolle als Mörder und Folterer, der jetzt wieder eine hohe Position in der Polizei einnimmt, reflektiert die sozialen Strukturen der Zeit nach dem Spanischen Bürgerkrieg. Ehemalige Verbrecher üben weiterhin Macht aus und setzen erbarmungslos die Vernichtung von Identitäten fort. Sie verstärken das Gefühl von Angst und Hilflosigkeit bei den Figuren. Mit dem Bettler Fermín Romero de Torres schafft Zafón einen Gegenpol, der den Überlebenskampf in der nach dem Krieg zerrütteten Gesellschaft symbolisiert.

Carlos Ruiz Zafón beschreibt die Literatur mit einer solchen poetischen Leidenschaft, dass jede Seite ein Liebesgeständnis an die Kraft der Worte ist und lange nach dem Schließen des Buches nachhallt. Die Metaphern ziehen den Leser in die Emotionen und die Geheimnisse der Stadt und der Figuren hinein und geben den Schatten der Vergangenheit Leben. Jeder von Zafón gezeichnete Charakter trägt seine eigene Last und sucht in dieser zerstörten Welt seinen Platz. Es ist diese Melancholie, die der Autor über Barcelona legt. Mit ihr verdeutlicht er die Wunden der Kriegszeit, die in der Gegenwart nachwirken und teilweise wieder aufreißen. Es ist dieser unsagbare Schmerz über den Verlust von Menschen. Es ist dieser unsagbare Schmerz über den Verlust der Liebe. Und es ist dieser unsagbare Schmerz über den Verlust der Worte der Literaten, die während des Spanischen Bürgerkriegs und danach in Vergessenheit geraten sind.

Carlos Ruiz Zafón, Der Schatten des Windes, 9. Auflage: Juli 2020, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 576 Seiten, € 12,00, ISBN 978-3-596-19615-9

© Soraya Levin