Beherrscht der Mensch sein Leben mit dem Verstand? Der Schweizer Ingenieur Walter Faber ist zumindest davon überzeugt. Den Glauben an das Schicksal und an mythisches Denken lehnt er ab. Er steht damit stellvertretend, wie der Titel des Buches verrät, für den Archetypus des Homo faber, dessen Leben sich an der rationalen Logik statt an der Gefühlswelt und schicksalhaften Ereignissen orientiert. Sichtbar wird seine innere Haltung zum einen in der gefühlskalten und lieblosen Beziehung zu seiner Freundin Ivy. Seine emotionale Distanz und die Ablehnung gefühlsmäßiger Bindungen wie einer tiefgehenden Liebe zeigt sich daran, dass er seiner Freundin mitteilt, dass er sie nicht liebt und es vorbei ist. Auf der anderen Seite ist er ein Kontrollpedant, der sich die Uhrzeiten eines Ereignisses oder einer Situation und die Orte notiert.
Ein Arbeitsauftrag zur Überwachung einer Turbinenmontage führt ihn nach Caracas. Wegen schlechten Wetters starten sie in New York drei Stunden später. Der Beginn des Romans verdeutlicht bereits, dass unvorhergesehene Ereignisse die vernunftgesteuerten Pläne über den Haufen werfen. Als Homo faber ärgert sich Walter nicht über die Verspätung, sondern über seinen deutschen Sitznachbarn Herbert, der ihn in seiner Ruhe stört. Bei einer Zwischenlandung versteckt sich Walter auf der Toilette und versucht damit, einem Weiterflug zu entkommen. Diese Flucht vor der unangenehmen Situation mit dem Sitznachbarn verdeutlicht, dass auch die Ratio an ihre emotionalen Grenzen des Aushaltbaren stößt und zu wanken beginnt.
Ist es das Schicksal oder die eintretende Unwahrscheinlichkeit, dass schrittweise alle Triebwerke des technisch ausgereiften Propellerflugzeuges, der Super Constellation, ausfallen und sie in der mexikanischen Wüste notlanden müssen? Die Passagiere tragen in der Wüste ihre Schwimmwesten. Diese Symbolik des realitätsbezogenen Verlustes durch die nicht mehr zu kontrollierenden Umstände steht im krassen Widerspruch zu dem Technik- und Kontrollglauben von dem Protagonisten Walter Faber. Auch zeigt sich an dem Bild, die Hilflosigkeit des Menschen, denn die Schwimmweste nützt in der Wüste gar nichts.
Walter Faber lernt durch den unfreiwilligen Zwischenstopp seinen Sitznachbarn Herbert beim Schachspiel näher kennen. An dieser Stelle ist sichtbar, dass Walter Faber versucht, seine eigene Rationalität durch das strategische Denken beim Schach aufrechtzuerhalten. Es stellt sich heraus, dass Herbert der Bruder seines Jugendfreundes Joachim ist. Diese Erkenntnis katapultiert Faber unfreiwillig zurück in seine Vergangenheit, in die 1930er-Jahre in Zürich. Er erinnert sich an seine halbjüdische Freundin Hanna, die ein Kind von ihm erwartet, was er nicht will. Sein Freund Joachim, Medizinstudent, soll für Walter eine Lösung finden. Walter, der einen Arbeitsauftrag in Bagdad hat, beschließt, Hanna vor seiner Abreise zu heiraten. Noch vor dem Treueschwur verzichtet Hanna auf die Heirat, da sie weiß, dass Faber nicht aus Liebe heiratet, sondern nur um sie vor dem Antisemitismus zu schützen.
Von Herbert erfährt Faber, dass Joachim Hanna geheiratet hat und Hanna in Athen lebt. Diese Information löst bei Faber eine emotionale Reaktion aus, die einen derartig verletzlichen Faber zeigt, sodass sie zu einem Wendepunkt in seinem Leben führt. Spontan weicht er von seinem bisherigen korrekten Lebensmuster ab und beschließt Herbert, der Joachim in Guatemala besuchen will, zu begleiten. Hier zeigt Faber eine starke emotionale Reaktion auf das Erlebte.
Walter vernachlässigt seinen Job und lässt sich fünf Tage mit Herbert treiben. Sie sind mitten im Dschungel von Palenque und die einzige Abkühlung in der siedenden Hitze ist Bier. Und wieder entscheidet etwas von Außen, nämlich eine Reifenspur, dass sie weiter nach Guatemala fahren und nicht umkehren. Sie erreichen die Plantage, doch Joachim hat sich das Leben genommen. Herbert entschließt sich vor Ort zu bleiben und Walter kehrt nach New York zurück, wo ihn seine Ex-Freundin Ivy erwartet.
Faber flieht vor seiner eigenen Inkonsequenz, sich mit Ivy nicht mehr abzugeben. Um ihr und der emotionalen Beziehung schnellstmöglich zu entkommen, wählt er für eine Reise nach Paris statt des Flugzeugs das Schiff. Sind höhere Mächte im Spiel, dass sich Zufälle aneinanderreihen? Was auch immer im Spiel ist. Die Rationalität schützt nicht vor den Unwägbarkeiten des Lebens. Faber sträubt sich innerlich dagegen, mit Ivy auszugehen. Dadurch hält er sich länger in seiner Wohnung auf und erhält einen Anruf von der Reederei, die umgehend die Papiere von ihm benötigt, damit seine Passage nicht verfällt. Rechtzeitig schafft er es dadurch auf das Schiff, wo ihm Sabeth begegnet. So nennt er sie, die eigentlich Elisabeth heißt.
Sabeth könnte nicht nur vom Alter her seine Tochter sein. Sie ist seine Tochter. Nur Faber weiß es nicht. Später erfährt er, dass Hanna Sabeths Mutter ist. Er vermutet, dass sie das Kind seines verstorbenen Jugendfreundes Joachim ist. Da Walter sich emotional nicht in Hanna als werdende Mutter mit seinem Kind im Bauch hineingedacht hat, zieht er nicht rechtzeitig den Stecker aus der sich anbahnenden Liebe und steuert auf eine unheilbare Beziehung zu. Die beiden kommen sich näher, bereisen gemeinsam Italien und Walter möchte Sabeth heiraten. Doch ihre Reise steht unter einem schlechten Stern.
Auf ihrem gemeinsamen Weg Richtung Griechenland verstirbt Sabeth an einem Schlangenbiss. Ihr Tod bedeutet für ihn einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben, denn im Krankenhaus begegnet Faber Hanna. Zwischen ihnen herrscht eine Eiszeitstimmung. Jetzt erfährt er die Wahrheit. Gewissensbisse plagen ihn und er beabsichtigt Hanna zu heiraten. Er zeigt, dass er sich seiner Schuld und seiner emotionalen Verfehlungen in der Vergangenheit bewusst ist und die beabsichtige Heirat wirkt wie der Versuch, bei Hanna nicht nur um Verzeihung zu bitten. Es geht ihm vielmehr um die Erlösung der sich auftürmenden emotionalen Schuld. Der rationale Faber wird vom Schicksal, das er leugnet, eingeholt und erkrankt an Krebs. Obwohl er gegen das Schicksal ankämpft, bleibt ihm nichts anderes übrig als die Situation und damit das Schicksal zu akzeptieren. Die Entscheidung, sich in Griechenland operieren zu lassen, deutet darauf hin, dass er sein bisheriges Leben reflektiert, da er weiß, dass es an einem seidenen Faden hängt. Hanna, die bereits im Begriff ist, Athen zu verlassen, kehrt in letzter Minute um. Die unerwartete Krebserkrankung bringt Hanna zurück in Walters Leben und gibt ihnen eine zweite Chance für eine erneute Beziehung.
Der Roman Homo faber zeigt anhand des Protagonisten Walter Faber den Konflikt auf, der zwischen dem Schicksal und der Vernunft besteht. Der Vernunft sind klare Grenzen gesetzt. Und zwar dort, wo unwahrscheinliche Ereignisse im Leben eintreten, die wir nicht mehr kontrollieren und steuern können. Diese Ereignisse, die mit tiefen Emotionen verknüpft und mit zufälligen Begegnungen verbunden sind, stellen uns als Menschen immer wieder vor die Wahl, zu handeln und zu entscheiden. In ihrer Komplexität sind sie verantwortlich für unser weiteres Lebensschicksal und die Veränderung unserer tiefgreifenden emotionalen Beziehungen.
Max Frisch ist es gelungen, den Konflikt zwischen der Vernunft und dem Schicksal bereits in der Geschichte selbst darzustellen. Zusätzlich wird die Darstellung des Konflikts durch den besonderen Sprachstil ergänzt. Zu Beginn legt er Walter Faber kühle und unpersönliche Worte in den Mund, die im Laufe des Romans mit den aufkommenden Emotionen lebendiger und bildhafter werden.
Max Frisch, Homo Faber, 1. Auflage, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2021, Suhrkamp pocket, 304 Seiten, 12,00 EURO, ISBN 978-3-518-47184-5
© Soraya Levin