Während in den 50er Jahren viele Menschen nach der Tragödie des Zweiten Weltkrieges in die Normalität zurückkehren, tragen die Holocaustüberlebenden ihre schmerzhaften Erlebnisse der Shoa mit sich. Ein schweres Erbe, das sie weitergeben an ihre Kinder.
In Ein Lied für meinen Vater erzählt ein Kind der Zweiten Holocaust-Generation, die Komponistin Ella Milch-Sheriff, wie der Schrecken der väterlich erlebten Vergangenheit sich wie eine dunkle Decke über ihre Kindheit ausgebreitet hat.
Ellas Eltern emigrieren 1948 in den neu gegründeten Staat Israel. Der Beginn in der neuen Heimat ist zunächst jämmerlich und bescheiden. Bald wohnen sie in der Achad-Ha’am-Straße Nummer 14 in Haifa. Hier verbringt Ella, die 1954 geboren wird, gemeinsam mit ihrer Schwester Shoshana ihre ersten Kindheitsjahre. Ein Zuhause finster und freudlos. Ein Vater, den Ella fast nur gefühlskalt, schweigsam und gewalttätig kennt.
Ella weicht oft zu ihrer Freundin aus und flüchtet sich schließlich in die Musik. Ihr Bedürfnis dem Elternhaus zu entfliehen, treibt sie früh in eine Ehe, die jedoch scheitert. Mit ihrem zweiten Mann, den Komponisten Noam Sheriff, beginnt ihr Leben sich aufzuheitern und lebendig zu werden. Die Musik wird zum großen leidenschaftlichen Band zwischen Ella und Noam.
Als ihr Vater im Sterben liegt, erfährt Ella von seinen Tagebuchaufzeichnungen. Die Zeilen sprechen das überdauernde Unglück und Leid aus. Hier erfährt Ella erstmalig, was ihr Vater nie zu sagen vermochte. Baruch Milch wird 1907 in der Kreisstadt Podhajce in Ostgalizien geboren. Seine Kindheit ist unbeschwert, geprägt von einer Leidenschaft zur Musik. Optimistisch blickt er als junger Mann und angehender Arzt in die Zukunft. Bis zu dem Tag, an dem er seine Hoffnung und seine Träume verliert. „Am Freitag, dem ersten September 1939 begann das Ende meines wirklichen Lebens...“
Baruch Milch muss flüchten, verliert seine über alles geliebte erste Frau Peppa und seinen kleinen Sohn Eliash-Lunek. Die willkürliche Schlächterei an den Juden, die Zerstörung und im Tod endende Brutalität der deutschen Truppen sowie der ukrainischen Nachbarn brennen seinen tiefen Schmerz und seine menschliche Enttäuschung in die Seele. „Alle jüdischen Wohnungen waren geplündert worden. Wir sahen auf Schritt und Tritt leblose Körper und Blutlachen.“
Baruch überlebt als einziger seiner Familie. Er lernt Lusia kennen, Ellas Mutter. Auch sie ist durch den Holocaust schwer gezeichnet und gemeinsam planen sie, nach Palästina zu emigrieren.
Mit der autobiografischen Geschichte Ein Lied für meinen Vater zeigt Ella Milch- Sheriff, dass der Albtraum des Holocausts vererbbar ist. Während nach dem Zweiten Weltkrieg die äußeren Trümmer langsam beseitigt werden, bleiben die inneren blutigen Trümmer für die Überlebenden des Holocausts liegen. Sie lassen sich nicht so einfach wegräumen. Denn zu grauenvoll sind die persönlichen Leiden. Baruch Milch, ein Jude aus der Stadt Podhajce in Ostgalizien, hat ständig den Tod vor Augen, als der Völkermord mit Hilfe der ukrainischen und polnischen Nachbarn aufs Brutalste zuschlägt. Er erlebt wie Freunde und Nachbarn ihren Verrat begehen und wie sie die sogenannte Lösung der „Judenfrage“ unter dem dumpfen Deckmantel des Antijudaismus mittragen.
Während nach der unmenschlichen europäischen Barbarei bald wieder Normalität einkehrt, die Täter mit den Amnestiegesetzen des deutschen Bundestages von 1949 und 1954 weitgehend amnestiert werden, fragt niemand nach den Holocaustüberlebenden und ihrer gesellschaftlichen Reintegration. Zwar sind sie von den barbarischen Fesseln befreit, doch wie Elie Wiesel sagt, ohne Freude im Herzen. Und Baruch Milch, „Ich schaudere, wenn sie über die heranrückende Front der Sowjets und die erwartete Befreiung sprechen. Ich fürchte mich vor dem Abschied. Wie kann ich, der einzige Überlebende meiner Familie, in eine freie Welt hinausgehen?“
Die Vergangenheit kann nicht bewältigt werden, denn zwischen ihr und der Gegenwart steht die Zeit still und schweigt. So auch bei Baruch Milch, dessen Schweigen die Tochter Ella erst im Tagebuch lichtet. Ein tiefes Schweigen, das jedes Lachen erstickt und sich auf die nachfolgende Generation legt. Eine Schlucht, die Ella Milch-Sheriff mit der Ausdruckskraft der Musik durch eine im Februar 2010 in Braunschweig inszenierte Jugendoper mit dem Titel „Baruchs Schweigen“ zu überwinden hofft.
Ella Milch-Sheriff ist mit Hilfe der deutschen Journalistin Ingeborg Prior nicht nur den dunklen verschwiegenen Spuren ihres Vaters nachgegangen, sondern hat auch erkannt, dass das elterliche schwere Erbe der Shoa für sie zu einem neuen jüdischen Selbstverständnis geführt hat. Sie als eine Sabra, als eine in Israel geborene Jüdin, wagt einen Neubeginn nicht in einer durch Flucht gewählten Heimat, sondern in ihrer Heimat.
Wie kontrovers auch der israelisch-palästinensische Konflikt diskutiert werden mag. Die zweite Holocaust-Generation zeigt, dass die Existenz Israels nicht nur international und völkerrechtlich anerkannt ist, sondern dass sie, besonders im Schatten des Antisemitismus, eine unabdingbare Notwendigkeit ist. Eine Notwendigkeit, die selbstverständlich ihren Weg in friedlicher Koexistenz mit den Palästinensern suchen und finden muss. Die internationale Staatengemeinschaft tut in ihrer Verantwortung gegenüber den Holocaustüberlebenden und der Zweiten Generation jedoch gut daran, die Gegner ernst zu nehmen. Baruch Milch hört in seiner „...Jugendzeit in Polen ... die Hetzrufe ‚Juden, ab nach Palästina‘, und als alter Mann...von unseren arabischen Nachbarn, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten,...‘Juden raus aus Palästina‘."
Töne unserer Zeit seitens der Hamas und des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, die an die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnern. Stellte schon das von Goebbels initiierte Institut zum Studium der Judenfrage einen eigenen jüdischen Staat in Abrede, so wird hier der Nährboden für eine neue „Judenfrage“ gelegt.
Ein Lied für meinen Vater ist eine überaus dichte Erzählung einer unglücklichen Kindheit der Zweiten Holocaust-Generation, die zeigt wie still und schwer die ererbte Vergangenheit die Seele wiegt.
Ella Milch-Sheriff, Ingeborg Prior, Ein Lied für meinen Vater, Gebunden, mit 19 Abbildungen, 196 Seiten, Aufbau-Verlag, Berlin 2008, 978-3-351-02661-5, 19,95 € *) / 38,60 Sfr
© Soraya Levin