Roland Freisler, Scharfrichter und intellektueller Massenmörder ohne Unrechtsbewusstsein, mit einer verbrecherischen Gesinnungsethik.
Geschichtliche Last
„Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.“ Ein Jedermannsatz, gesprochen von dem deutschen Schriftsteller Martin Walser in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998. Der Hinrichter, Roland Freisler - Mörder im Dienste Hitlers. Schon wieder „die „geschichtliche Last“ schon wieder „die Instrumentalisierung unserer Schande“ wie Walser sagt?
Nein, in Helmut Ortners Buch über Roland Freisler geht es nicht um Vorhaltung oder um Instrumentalisierung. Es geht um Verantwortung, die unabdingbar mit der Erinnerung verknüpft ist. Wer sie verdrängen möchte, der begräbt sie nicht nur, sondern löscht sie für immer aus, mordet einen Teil der Identität. Das Erbe des ethisch-moralischen Versagens ist auf das deutsche Volk als Erbengemeinschaft übergegangen. Und zwar freiwillig. Die hinterlassene Schuld wird nicht ausgeschlagen, denn die Ablehnung des Erbes hätte eine Reflexion und Verantwortungsübernahme nach sich gezogen. Stattdessen setzt sich die Schuld im veränderten Gewand fort. Die Justizkopfjäger zeigen sich im Deutschland nach 1945 wieder in Robe und in bedeutenden Positionen.
Pervertierung der Rechtskultur
Helmut Ortner nimmt die Justiz als tragende Säule des nationalsozialistischen Systems in den Fokus. Am Beispiel des Volksgerichtshofpräsidenten und Hitlers treuem Soldaten Roland Freisler zeigt Ortner auf, dass die Justiz schon vor Aufführungsbeginn die Musik der Nazis spielt. Das Publikum ist das deutsche Volk.
Die Justiz sitzt freiwillig in Hitlers Reitsattel und galoppiert der Auflösung der parlamentarischen Demokratie entgegen. An der Spitze der immer zügellosere Roland Freisler, dessen Karriere sich auf dem Ende der Demokratie und auf dem Boden von Toten aufbaut. Als Teilnehmer der Wannseekonferenz plant er die Vernichtung der europäischen Juden mit, als Volksgerichtshofpräsident wütet der Mörder von 1942 bis zu seinem Tod 1945.
Schritt für Schritt pervertiert die Justiz ihre Rechtskultur. So ist die Zustimmung fast aller Abgeordneten zum Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, kurz Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, eine Bankrotterklärung des Parlamentes, das freiwillig die Gewaltenteilung aufgibt.
Nach dem Reichstagsbrand am 27.02.1933 wird mit der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.02.1933 der Grundrechtskatalog außer Kraft gesetzt, was sich am deutlichsten in der Schutzhaft symbolisiert. Das Reichsgesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29.03.1933 verhängt rückwirkend ab Ende Januar 1933 die Todesstrafe, für alle Taten, die sich gegen die Öffentlichkeit richten.
Bereits vor dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum vom 7. April 1933, das alle nichtarischen Beamten aus dem Dienst entfernt, fordern die Justizminister der Länder am 1. April 1933 mit ihrem Aufruf zu einem Boykott gegen jüdische Richter, Anwälte, Schöffen eine arische Justiz.
Im Oktober 1933 bekennt sich die deutsche Justiz mit ihrem Rütli-Schwur zu Adolf Hitler „Wir schwören beim ewigen Herrgott, wir schwören bei dem Geiste unserer Toten, wir schwören bei all denen, die das Opfer einer volksfremden Justiz einmal geworden sind, wir schwören bei der Seele des deutschen Volkes, daß wir unserem Führer auf seinem Wege als deutsche Juristen folgen wollen bis zum Ende unserer Tage.“ und beschwört „ein Volk, ein Reich, eine Justiz, ein Führer.“
Die Justiz beugt das Recht und schafft sich eine durch den nationalsozialistischen Terror gefestigte Rechtskultur. Führende Professoren der Rechtswissenschaften wie Carl Schmitt legen die Basis für die pervertierte Justizia, in dem mit der Unabhängigkeit des Richters gebrochen wird, denn „Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum.“ und das Richtschwert heißt jetzt völkische Gemeinschaft und Mord. Die Bühne für den vermeintlichen Landesverrat, für defätistische Äußerungen und angebliche Wehrkraftzersetzung liefert der Volksgerichtshof. Für die Verurteilten wartet mit dem Präsidenten Roland Freisler im Gerichtssaal der Tod. Die Verhandlung mutiert zur Posse, die Verurteilten sind längst verurteilt. Nach Freisler ist „Recht, was dem Volke nutzt“ und das ist der Tod. Die Berliner Bellevuestr. 15 verkommt zum Kriegsschauplatz des Todes, auf dem der treue politische Soldat Roland Freisler mit seinen juristischen Mitstreitern gegen die Witzemacher und Staatsbeleidiger, gegen die Untermenschen wie Juden kämpft. Freislers Führerfetischismus und sein Fanatismus treiben die Liquidierungszahlen nach oben. Wer vor dem Volksgerichtshof steht ist ein Staatsfeind und gehört beseitigt. Im Namen des deutschen Volkes wird gemordet und die Litfaßsäulen übermitteln die Morddepeschen an das deutsche Volk. Der Kopfjäger Freisler hängt oder köpft die „Volksschädlinge“. Die Justiz mordet vom einfachen bis zum prominenten Bürger wie dem Konzertpianisten Karlrobert Kreiten und der Schwester Erich Maria Remarques bis zu Widerstandsgruppen wie der weißen Rose. Am Volksgerichtshof sind die Rechte der Verurteilten vernichtet. Es gibt keine Haftprüfung und keine Chance das Urteil anzufechten. Das Urteil und die Hinrichtung, eine Symbiose im Schnellverfahren. Der „Volksschädling“ wird über den Tod hinaus bestraft. Sein Vermögen, falls vorhanden, fällt dem Staat zu, sein Leichnam wird den Angehörigen nicht ausgehändigt, die Verfahrenskosten trägt der zum Tode Verurteilte. Nicht nur im Volksgerichtshof wird der Todeshammer der rechtsprechenden Todesschwadrone geschwungen. Die Todesstaffel wird an die Militärjustiz und an die Gestapo weitergereicht. Gesäubert wird in den besetzten Gebieten, in den KZ‘s und in Nacht- und Nebelprozessen.
Während die deutsche Wehrmacht die Schlacht um Stalingrad führt, führt Freisler seine große Schlacht am Volksgerichtshof mit zigtausenden Toten.
Justizmörder im neuen Gewand
Dem Mörder droht die Verurteilung. Nicht aber den Justizmördern der Nazizeit. Ihre Biografie geht ungehindert weiter. Die braune Justiz besetzt die öffentlichen Ämter im Nachkriegsdeutschland. Sie sind Amtsträger wie Staatsanwalt, Landgerichtspräsident und Ministerpräsident.
Nach Adenauer sind die braunen Schergen mit ihren Kenntnissen systemrelevant für das neue Deutschland. Leute wie Dr. Hans Globke sind gefragt. Ein Experte auf dem Gebiet des Blutschutzgesetzes, ein Experte für Rassengesetze und ein Experte für die Endlösung der Judenfrage. Keine Frage, ein systemrelevanter Experte, unabkömmlich für das Kanzleramt als Kanzleramtssekretär. Die Ämter und Ministerien benötigen die Nazi-Täter wie den Reichsanwalt Wolfgang Fränkel, dem nach 1945 eine Karriere als Generalbundesanwalt offen steht, wie Dr. Friedrich Karl Vialon. Verantwortlich für die Versklavung der Juden in Osteuropa, verantwortlich für die Ausplünderung der Ostjuden. Immerhin schafft er es im demokratischen Deutschland bis zum Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt. Andere wie Dr. Heinz Paul Baldus, in der Reichsabteilung von Adolf Hitler tätig gewesen, werden nicht nur Richter am Bundesgerichtshof, sondern schaffen es bis zum Senatspräsidenten. Ironie der Tragödie. Er urteilt über Nazi-Fälle. Die Liste der braunen Kontinuität zieht sich durch das ganze Land.
Im Osten Deutschlands bestimmt der politische Leitgedanke der SED die Gesetzgebung.
Inspiriert von Stalin findet unter dem Generalstaatsanwalt Dr. Melsheimer, dessen Karriere sich unter den Nazis am Kammergericht entfaltet hat, eine Inszenierung von Schauprozessen statt.
Obwohl der Nürnberger Juristenprozess das Urteil fällt „...Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.“ wird fast die gesamte NS-Justiz für ihren verbrecherischen Rechtsmissbrauch nicht zur Verantwortung gezogen.
Vom braunen Sumpf durchsetzte Richter urteilen nach 1945 im Westen wie im Osten Deutschlands.
Der Filbinger Persilscheinspruch „Was damals Recht war, kann heute nicht unrecht sein“, macht die verwahrloste Gesinnungsethik der deutschen Eliten sichtbar. Dass Standgerichtsurteile wie beispielsweise der Brettheimfall vom Bundesgerichtshof im Nachhin als rechtsgültig bestätigt werden, zeigt die Deformierung der belasteten Justiz. Gleiches gilt für die Schaffung des § 131 GG, der die eigene Zunft der NS-Beamten wieder in ihre Positionen bringt. Während das Bundesentschädigungsgesetz nur schleppend voran kommt und in der Durchführungsverordnung nicht opfergerecht ist, ist das Bundesversorgungsgesetz extrem tätergerecht. Die Angehörigen von NS-Schwerverbrechern wie Roland Freisler oder Himmler erhalten Renten vom neuen deutschen Staat.
Von einer ethisch-moralischen Reflexion und Verantwortung ist keine Spur vorhanden. Kein Stück Unrechtsbewusstsein beim justizialen Steigbügelhalter Hitlers.
„Hitlers Deutsche - ein Volk von Mitmachern, Zuschauern und Wegschauern.“, das nach 1945 bis heute einen Schlussstrich fordert.
Die Frage nach dem Neubeginn
Nach Helmut Ortner hat es keinen politischen Neubeginn gegeben.
Hier ist ein Schritt weiter zu denken. Ein Volk, das nach 1945 die Systemrelevanz der braunen Eliten nicht in Frage stellt, ein Volk, das sich weigert, die Verantwortung für seine Mittäterschaft und sein Wegsehen zu übernehmen und sich der Vergangenheit zu stellen, kann keine neue Identität gefunden haben, sondern hat sich hingegen wie ein Chamäleon in das aufgedrängte System eingefügt. Belege liefern der transformierte Antisemitismus der 68er Bewegung sowie die unreflektierte kritische Fokussierung auf Israel. Der Umgang mit den V-Männern innerhalb der NPD, die Verfehlungen und Verschleppungen bei der Aufklärung der NSU-Morde sind nur einige Indikatoren, die die Frage nach einer transformierten braunen Gesinnungsidentität innerhalb der Gesellschaft und ihrer Eliten stellen. Verantwortungsentlastung kann es daher nicht geben. Ein Gegensteuern gelingt nur mit einer Bewusstseinsschaffung für die Erinnerungskultur.
Helmut Ortner, Der Hinrichter, Roland Freisler - Mörder im Dienste Hitlers, 2013 by WBG, Darmstadt, 344 Seiten, mit 15 s/w Abb., Bibliogr. und Reg., Hardcover, WBG Preis 19,90 EUR, Buchhandelspreis 24,90 EUR, ISBN 978-3- 534-25905-2
© Soraya Levin