Ihre Namen waren Anna Treiber, Richard Utz, Jakob Speiser, Anton Kramer, Fred Meth, Klara Schuster und viele mehr, die es verdient hätten, genannt zu werden. In Heil- und Pflegeanstalten des Dritten Reiches ermordet, im Nachkriegsdeutschland weitgehend vergessen.
Götz Aly holt mit „Die Belasteten“ diese Opfer aus der Versenkung. Der Buchtitel verdeutlicht bereits die Schwere dieser ethischen Hypothek. Hier klafft kein Loch zwischen den als unbrauchbar für die Gesellschaft „Belasteten“ und denjenigen, die durch ihre Handlung und Nichthandlung in Schuld verstrickt sind, die mit für die ca. 200.000 Toten zwischen 1940 und 1945 verantwortlich sind.
Diese geplante Vernichtung schminkt sich mit dem Namen Euthanasie. Ein leichter Tod? Nein, ein eiskalter Mord, dessen ethische Basis die völkische Auslese zur Aufrechterhaltung eines gesunden Volkes ist. Die Rassenhygiene verschlingt mit den Zwangssterilisierten ihre ersten Opfer. Juristisch abgesegnet mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933.
Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ nimmt gestärkt durch Schriften wie die von Theo Morell an Fahrt auf. Normativ wird nun gesetzt, was lebenswert ist und was nicht. Der Mensch wird reduziert auf seine Wirtschaftlichkeit und aufgewogen in brauchbar und nicht brauchbar für die völkische Gesellschaft. Wertlos und eine gesellschaftliche Last bedeutet den Tod. Hierunter fallen die geistig behinderten Menschen, die psychisch Erkrankten, die sozial Auffälligen, die als asozial Stigmatisierten, die TBC-Erkrankten. Letztlich sogar die Alten und die durch die Kriegserlebnisse Traumatisierten. Die Auslese frisst sie, diese „nutzlosen Esser“.
Mit der Aktion T4, benannt nach dem Sitz der bürokratischen Institution dem „Reichsausschuss zur Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ in der Tiergartenstr. 4 in Berlin, beginnt im Jahr 1939 die erste strukturiert geplante Mordphase. Von hier aus zieht sich die Todesschneise durch das Reichsgebiet und konzentriert sich auf sechs Kliniken. Grafeneck, Hadamar, Bernburg, Brandenburg, Sonnenstein/Pirna und Hartheim. Hier werden die „Lebensunwerten“, vom Kind bis zum Alten, nur noch als Nummer geführt. Hier wird den „Lebensunwerten“ unter ärztlicher und pflegerischer Anleitung in den Gaskammern der „Gnadentod“ gewährt. Hier präsentiert sich „Der neue deutsche Arzt“, zu dessen Pflichten die Auslese im Innern gehört, den Karl Kötschau im Ärzteblatt von 1942 beschreibt.
„Aber gelt Schwester, umgebracht werden’s bei Euch nicht?“, doch, denn „Was wir hier tun, ist Mord.“, der vor Kindern nicht Halt macht. In den sogenannten Kinderfachabteilungen haben Kinder „... immer so Angst gehabt.“, werden Kinder zu „Reichsausschusskindern“, werden Kinder wie der 8-jährige Ernst Brand, wie der gern lachende 3-jährige Egon Marschall und wie die anhängliche und lachende 2-jährige Gertrud Deuerling und Tausende anderer Kinder gequält und ermordet.
Von Ärzten beschönigte Todesdiagnosen und sogenannte „Trostbriefe“ legen einen Nebelschleier über diesen Mord, der in den ersten Jahren mehr als 70.000 Tote fordert.
Hier kämpft kein Arzt gegen eine unbekannte Seuche um das Leben von Kranken. Hier ist der Arzt selbst die Seuche. Diese Seuche ist äußerst ansteckend. Gefährdet sind Personen, die mit völkischem Gedankengut infiziert sind, Personen, die ihre Chance sehen, Karriere zu machen, die endlich an Lebenden und Toten ungehemmt forschen wollen, Personen, die die Last der Verantwortung für ihre kranken Angehörigen weg haben wollen, die von nichts wissen wollen.
Ärzte, Pflegepersonal, Hebammen, Mitarbeiter der Gesundheitsämter, Standesbeamte, Verwaltungsangestellte, Mitarbeiter der Fürsorgestellen, Verwandte. Sie alle haben sich mit dem Erreger nicht nur infiziert. Sie haben sich freiwillig zum Handlanger der Mörderclique gemacht.
Wo sind sie gewesen, die Widerständler? Es hat sie gegeben, wenn auch wenige. Es sind Angehörige, die mit ihrer Hartnäckigkeit das Leben der Todgeweihten gerettet haben. Oft haben regelmäßige Besuche als lebensrettende Maßnahme schon ausgereicht. Es sind kirchliche Würdenträger wie der Bischof Clemens August von Galen, der in seiner „Euthanasiepredigt“ vom 2. August 1941 die Morde öffentlich anprangert. Ein Aufruhr der katholischen Volksgenossen ist nicht gewünscht. Formell wird die institutionelle Mordphase daher gestoppt. Informell geht sie ungehindert in dezentraler Form bis Kriegsende weiter. Als Mordinstrumente sind jetzt Medikamente und Aushungern unter den Ärzten salonfähig.
Der Arzt als Helfer ist nicht mehr zu erkennen. Den Machern des Todes fehlt es nicht nur an Mitgefühl. Ihre moralische Haltung entbehrt jeder ethischen Grundlage, ist bis ins Infame gesteigert und interpretiert die Ethik für sich neu im völkischen Sinne. Der Preis für ihre Täterschaft? Der Preis für ihre schweren Verbrechen? Der Preis im Nachkriegsdeutschland West und Ost heißt Anerkennung und Karriere. Im Ärzteprozess von 1947, wo es insbesondere um die Verbrechen gegen die Menschheit gegangen ist, gibt es tatsächlich zum Tode Verurteilte. Insgesamt betrachtet gehen die Täter hingegen fast ohne Strafmaß aus. Die wenigen verhängten Freiheitsstrafen werden im Rahmen des Amnestiegesetzes von 1954 eh wieder aufgehoben. Die Ärzteschaft kann stattdessen ungehindert an den „Überbleibseln“ wie den Gehirnen der Ermordeten herumexperimentieren und ihre Promotionsschriften darauf aufbauen.
Und die Ermordeten? Von ihnen ist nur noch die namenlose Asche übrig geblieben.
Im Deutschen Bundestag haben in der 17. Wahlperiode, sieben Jahrzehnte nach den Morden, die Fraktionen der Regierungskoalition, der SPD, der Bündnis 90/Die Grünen für die Ermordeten der Euthanasie einen Ort der Erinnerung gefordert. „Für die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung der „Euthanasie“-Morde und ihrer Opfer ist deshalb die Dokumentation des Verbrechens und die Würdigung der Opfer in Berlin, am Ort der Täter in der Tiergartenstraße 4, dem historischen Ort der Planung der Verbrechen, von übergreifender nationaler Bedeutung.“
Die Forderung nach einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung ist vor dem Hintergrund der Verantwortung, die jeder einzelne von uns trägt, überaus wichtig. Denn die gesellschaftlichen Gruppen als Mittäter haben über die sechs Vergasungsanstalten den Weg in den Holocaust mit geebnet. Von der Ermordung der „lebensunwerten“ Volksgenossen bis zur Ermordung der „lebensunwerten“ europäischen Juden ist es ein schmaler Grat.
Da wo wir unserer gesellschaftlichen Verpflichtung der ethischen Wahrnehmung nicht nachkommen wollen, tragen wir diese höllische Entwicklung mit, kann jeder zum Feind der Gesellschaft werden. Diskussionen über den nicht leistungsfähigen Kostenfaktor „Mensch“ können daher ungehindert geführt werden.
Die Erinnerungstafel in Berlin in der Tiergartenstraße 4 ist nach Jahrzehnten des Totschweigens, des sich nicht erinnern wollen, sicherlich ein erster, wenn auch sehr kleiner Schritt. Doch den Opfern ihre Namen wieder zu geben, die Toten nicht weiter tot zu schweigen, sie für Alle öffentlich einsehbar machen, das sollte der nächste große Schritt sein.
Götz Aly setzt mit seinem Buch „Die Belasteten“ ein gesellschaftswissenschaftliches Zeichen für die Notwendigkeit der Erinnerung.
Götz Aly, Die Belasteten, >Euthanasie< 1939-1945, Eine Gesellschaftsgeschichte, Sachbuch, Hardcover, 354 S., S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013, € (D) 22,99 | € (A) 23,70 | SFR 32,90 ISBN 978-3-10-000429-1
© Soraya Levin