Ein differenziertes Zeugnis lebendiger Religionsgeschichte im Heiligen Land, das zeigt, dass zum Verständnis der jüdisch-christlichen Religion mehr nötig ist, als das Alte und Neue Testament. Ein Buch, nicht nur für Fachleute oder Studenten der Thematik, sondern für jeden, der mehr über die Hintergründe der jüdisch-christlichen Religion wissen möchte.
Die Religionsgeschichte eines Landes ist nur im Kontext der kulturellen, regionalen und politischen Verhältnisse zu verstehen.
Michael Tilly, Professor für Judaistik und Wolfgang Zwickel, Professor für Altes Testament und Biblische Archäologie haben sich in ihrem Buch Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums mit der Entwicklung der Religion im Heiligen Land auseinandergesetzt. Zugrunde liegt die offene Religionsdefinition nach Gustav Mensching, die Religion als „erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit“ interpretiert.
Die Autoren fokussieren ihren Blick auf einen Zeitkorridor von der Jungsteinzeit bis zur Herausbildung des Christentums. Zeitzeugen des religiösen und kulturellen Wandels sind schwerpunktmäßig die archäologischen Funde. Sie liefern Rückschlüsse auf die religiöse Praxis vom Kult der Vielgötterei bis zum Monotheismus. Die beiden Autoren unterstützen ihre wissenschaftliche Ausarbeitung mit einem gut kommentierten Quellenverzeichnis.
Der religiöse Entstehungsprozess Palästinas fußt auf einem Naturkult mit regional spezifischer Ausprägung. In dieser kargen Landschaft wird für die losen Nomadenstämme der Fruchtbarkeitszyklus zur kultischen Überlebenssymbolik.
Erst mit der Gründung kleinerer Städte bildet sich ein von der Natur losgelöster zentralisierter Tempelkult heraus. Der Herrscher nimmt jetzt die bildhafte Stellung Gottes ein.
Der Übergang zur Eisenzeit und die Bildung von abgegrenzten Territorien bedeuten einen Wendepunkt im Herrscher- und Machtstatus. Mit dem Vorrücken der Götter ins Zentrum verliert der Herrscher seine gottgleiche Stellung.
Jahwe ist zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Gott unter vielen. Erst als unter König David das Nordreich Israel mit dem Südreich Juda und Jerusalem vereint wird, festigt sich Jahwe als bindender Gott der einzelnen Landesteile. Ins Zentrum rückt er unter Salomon, der Jerusalem zum Mittelpunkt des bildlosen Jahwe-Kultes macht.
Der Erste Tempel transformiert das individuelle religiöse Selbstverständnis in ein institutionalisiertes. Die Bundeslade wird zum Zeichen Jahwes.
Nach dem Tod Salomons spaltet sich das Reich. Mit der Spaltung verbunden ist eine religiöse Ausdifferenzierung des Nord- und Südreiches, die nach der Zerstörung des Nordreichs durch die Assyrer zur zentralen Problemstellung wird. Viele Nordreichsbewohner flüchten in das Südreich, so dass die Frage nach der religiösen Stabilität in den Mittelpunkt rückt. "Ein Gott - ein Glaube - ein Reich - ein Heiligtum" wird zum Sinnbild einer religiös gesteuerten Identitätsstiftung. Diese identitätsstiftende Glaubensbasis erfährt unter dem Einfall der Babylonier im Jahr 587 v. Chr. eine grundlegende Zäsur. Nicht nur Juda, sondern Jerusalem mit dem Zentralheiligtum wird zerstört.
Im weit verstreuten Exil wird die Religion zum jüdischen Identitätsanker. Das regional unabhängige Frühjudentum ist geboren. Zur Gruppenidentifizierung erfolgt eine starke Bindung an die Glaubensgrundsätze der Tora und die Einführung von rituellen Praktiken wie die Beschneidung.
Unter der Herrschaft der Perser erlebt Jerusalem mit dem Wiederaufbau des Tempels eine neue Blütezeit. Diese Blüte ist jedoch permanent bedroht von hellenistischen Einflüssen. In der Gegenwehr provoziert sie apokalyptische Strömungen.
Unter der römischen Besatzung wird Jerusalem und das Zentrale Heiligtum auf dem Tempelberg im Jahr 70 n. Chr. ein zweites Mal zerstört. Die letzte Schlacht um die jüdische Souveränität führen die Zeloten im Jüdischen Krieg in Masada. Das jüdische Selbstverständnis befindet sich in einem Martyrium der Identität und verlangt nach einer Orientierung und einem Neubeginn. An die Stelle des Heiligen Tempels tritt die Synagoge als Ort des gemeinschaftlichen Zusammenkommens. Der Gelehrte, der Rabbiner, verkörpert jetzt die Religion. Der im Tempel praktizierte Opferkult wird ersetzt durch das intensive Tora-Studium. Die jüdische Identität kommt nun ohne Tempel aus. Mit dem jüdischen Wanderprediger Jesus kristallisiert sich ein auf jüdischer Gruppenzugehörigkeit aufbauendes Christentum heraus, dessen einzige Ausdifferenzierung zunächst der Erlöserglaube ist.
Die Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums ist eine lehrreiche Einführung in die jüdisch-christliche Glaubensinstitutionalisierung. Die Autoren Michael Tilly und Wolfgang Zwickel setzen sich anhand der archäologischen Zeugnisse mit den immer wieder neu entstehenden religiösen Wendepunkten im Heiligen Land auseinander. In einer dynamischen Zeitreise zwischen den archaischen Religionen des Neolithikums und der Entstehung der monotheistischen Gesetzesreligion zeichnen die Autoren den Entwicklungsweg zu einem jüdisch-religiösen Selbstverständnis und dem christlichen Universalismus auf. Ebenso zeigen die Autoren, dass die Bedrohung von ‚Außen‘ die institutionalisierte Religionsentwicklung begünstigt hat. Die Bildung der jüdischen Identität wird mit den zwei existenziell einschneidenden Zäsuren, der Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels, vorangetrieben. Ein weiterer tiefer Einschnitt innerhalb der Religionsentwicklung ist die Trennung der jüdisch-christlichen Religion von der jüdischen Tradition, die zur Ausbildung der zweiten monotheistischen Religion, dem Christentum, führt.
Michael Tilly/Wolfgang Zwickel, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, gebunden, 220 Seiten mit 1 s/w Abb., 3 Tab., Bibliogr., Reg. u. Stellenverz., 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt, WBG-Preis EUR 24,90, Buchhandelspreis EUR 29,90, ISBN 978-3-534-15927-7
© Soraya Levin