Der jüdische Almanach, 7. Oktober. Stimmen aus Israel beleuchtet die tiefgreifenden Ereignisse und Folgen des bestialischen Überfalls der Hamas am 7. Oktober 2023 auf die israelische Gesellschaft. Der Angriff stellt für Israel einen Einschnitt dar, der als »Schwarzer Schabbat« in die Geschichte eingegangen ist.
Das Massaker an über 1000 Zivilisten, die zahlreichen Entführungen und in der Folge der Gaza-Krieg stellen einen Wendepunkt dar. Die Barbarei der Hamas hat die israelische Gesellschaft tief beängstigt und traumatisiert. Spürbare, emotionale Narben sind zurückgeblieben. Das Sicherheitsgefühl ist in den Grundfesten erschüttert. Diese Erschütterung hat eine intensive Auseinandersetzung mit Themen wie Identität, Sicherheit und der Zukunft des Landes ausgelöst. Dieser von einem Tag auf den anderen erlebte Schlüsselmoment des zerbrechlichen Schutzes spiegelt eine tief verwurzelte Angst wider, die aus der Geschichte mit den wiederholten Gewalterfahrungen resultiert. Die Texte im Buch zeigen neben der Angst und Trauer die Suche nach Wegen, um mit dem Erlebten umzugehen.
In dem Buch wird ausschließlich die Sicht verschiedener israelischer Autoren, Journalisten, Historiker und Aktivisten dargelegt, da die eingeladenen palästinensischen Autoren eine Beteiligung ablehnten. Dieses weist meiner Meinung nach auf die tiefe Kluft, die zwischen den beiden Seiten besteht, hin.
Die Berichte, Reflexionen und Analysen der Autoren bieten einen tiefgreifenden Einblick in die emotionale, politische und soziale Realität Israels nach dem 7. Oktober 2023. Vielfältige Aspekte wie Traumata, Widerstand und künstlerischer Ausdruck, Identität, Zugehörigkeit, Versöhnung, Frieden und Antisemitismus werden im Rahmen der Geschehnisse und deren Folgen angesprochen.
Inhaltliche Analyse
Zahlreiche Autoren schildern die gravierenden psychologischen Folgen des Massakers. Ayelet Gundar-Goshen betont die Notwendigkeit, eine neue Erzählung zu schaffen, die das Trauma anerkennt und den Betroffenen beim Umgang mit ihrem Schmerz hilft. Sie argumentiert, dass es für die Heilung einen erheblichen Unterschied macht, welche Sprache man für die Erfahrungen nutzt. Sie warnt zugleich vor der Gefahr, die die Schuldgefühle der Überlebenden mit sich bringen.
Andrea Livnat beschreibt einen »Platz der Entführten« in Tel Aviv, der das Trauma sichtbar macht und als Ort der gemeinschaftlichen Trauer fungiert. Auf dem Platz steht ein Schabbattisch als Mahnmal mit leeren Stühlen für die Verschleppten. Für Livnat ist eine Heilung der Traumata unvorstellbar. Sie ringt mit der Frage, ob durch die erlebte Gewalt eine friedliche Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern denkbar ist? Es ist diese tiefe Kluft zwischen der Demokratie und der Realität der Entführten, die den Lebensraum füllt.
Amir Tibon schildert eindringlich die Todesangst seiner Familie im Schutzraum während des Angriffs. Es ist diese beängstigende erlebte Ohnmacht, die auf der einen Seite die Verwundbarkeit der Gesellschaft verdeutlicht. Auf der anderen Seite zeigt sie hingegen den unbändigen Willen weiterzumachen.
Der Journalist Assaf Uni hält sich zur Zeit des Attentates in Berlin auf. Dennoch, obwohl er selbst in Sicherheit ist, beschreibt er ein Gefühl von seelischem Terror, der ihn durch das Massaker erfasst hat. Seine Schilderungen zu seinen Empfindungen und Gedanken berühren mich beim Lesen. Sie zeugen von einem intensiven Gefühl der Betroffenheit und Ohnmacht angesichts des massiven Leids, das er in den Berichten und Videos verfolgt. Er reflektiert über seine untrennbare, kulturell und emotional tief verwurzelte Verbindung zu Israel. Er beschreibt seine innere Zerrissenheit und sein Gefühl der existenziellen Entfremdung nach dem Massaker. Nach diesem zutiefst traumatisierenden Schicksalstag kehrt er nach Israel zurück. Seine Berichte über die Zerstörungen in Israel haben nicht nur eine journalistische Dimension, sondern sie sind persönlich und zeigen die geschundene Seele. Sie zeugen von einer abgrundtiefen Verzweiflung. Assaf Unis tiefe Empathie prägt seine Wahrnehmung. Er spricht von gebrochenen Herzen, verlorenen Familien und Bildern, die für ihn wie ein Teil seiner eigenen Identität wirken. Er fragt sich, wie Menschen, die man als Geschwister betrachtet, Opfer solch eines grausamen Verbrechens werden. Dem Leben wieder einen Raum zu geben, bleibt für ihn problematisch, was durch seine Aussage »Ich bin heimgekehrt, aber wo ist daheim?« deutlich wird. Die Zweifel am Heimatgefühl nach den Gräueltaten der Hamas spiegeln nicht nur seinen persönlichen Ausnahmezustand wider, sondern die kollektiv erlebte Krise über die Identität und das Zuhause, das nicht mehr derselbe Ort wie vor dem Attentat ist.
Für die Verschleppten ist daheim Israel. »Bringt sie nach Hause« ist die eindringliche Botschaft, die die Bilder der Entführten am Flughafen Ben-Gurion zum Ausdruck bringen. Hanne Foighel, eine jüdische Journalistin aus Dänemark, die als Nahost-Korrespondentin in Tel Aviv lebt und tätig ist, schildert ihre emotionale Erschütterung am Flughafen Ben- Gurion. Die Bilder konfrontieren sie schonungslos mit dem Leiden der betroffenen Familien.
Einzelne Autoren berichten, dass in Reaktion auf die Ereignisse zudem zahlreiche Formen des künstlerischen Ausdrucks entstanden sind, um mit dem Schmerz umzugehen. Insbesondere Graffiti und Wandmalereien, die die wuchtigen Gefühle der Bevölkerung und ihren Widerstand gegen Gewalt und Terror symbolisieren. Diese Kunstwerke dienen als Ventil, mit dem gemeinsamen Schmerz, der kollektiven Trauer und Wut umzugehen. Sie sind ebenfalls ein Symbol der Gegenwehr und der Hoffnung auf Frieden. Mütter in Tel Aviv haben zum Beispiel die Namen und Bilder entführter Kinder an Wände gemalt.
Navit Inbar ist Fremdenführerin in Tel Aviv und zeigt den Besuchern den künstlerischen Ausdruck der Stadt als Antwort auf das Massaker. Es sind Bilder und Slogans, die an die Opfer gedenken, die Hoffnung auf die Rückkehr der Entführten geben und eine Zuversicht auf Frieden symbolisieren. Die Berichte verdeutlichen, dass die israelische Gesellschaft Kunst als verbindendes und heilendes Element betrachtet.
Neben dem Wunsch nach Heilung und nach Frieden werfen die Texte Fragen nach der Zukunft Israels und nach dem Umgang mit dem wiedererstarkenden Antisemitismus auf. Der Schriftsteller David Grossman reflektiert über die kollektive Angst, die Wut und die tiefe Trauer der Israelis. Er hebt hervor, wie wichtig eine gemeinsame Verantwortung ist, um die Wunden zu heilen. Er fragt, was ein Zuhause ausmacht und ob Israel als Staat diesen Anforderungen gerecht wird. Aus Grossmans Worten wird deutlich, dass das Selbstverständnis Israels, das Gefühl der Sicherheit, durch das Massaker brutal zerstört ist. Grossman schreibt, dass das Massaker der Hamas eine tiefe Verzweiflung in der israelischen Gesellschaft ausgelöst hat. Im Prinzip sagt er, dass den Israelis vor Augen geführt wird, dass die Sicherheit Israels eine verwundbare Achillesferse ist. Erinnerungen an die Verwundbarkeit des jüdischen Volkes werden bei Grossman wach. Trotz ihrer beachtlichen Errungenschaften innerhalb von 76 Jahren bleibt die Bedrohung bestehen, sagt er. Die Angst, aus ihrem souveränen Staat vertrieben zu werden, ist präsent. Er kritisiert den Mangel an Empathie zwischen den Palästinensern und Israelis. Eine beunruhigende und würdelose Folge des Krieges ist nach Grossman, dass Israel der einzige Staat ist, dessen fanatische Vernichtungsaufrufe in der Welt toleriert werden. Das wirft die Frage auf, warum Israel unter den 197 Staaten der Welt der Einzige ist, dessen Existenzrecht ständig angezweifelt wird. Die Bestrebung der Terrorgruppen wie der Hamas, Hisbollah, Iran und anderer, Israel zu vernichten, ist für Grossman unerträglich. Zum Verzweifeln sind für ihn Versuche von Gruppen, die den israelisch-palästinensischen Konflikt ausschließlich als koloniales Problem darstellen. Diese vereinfachte Sicht wird der Komplexität des Problems nicht gerecht.
Viele Autoren thematisieren die Notwendigkeit eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Israelis und Palästinensern. Sie verdeutlichen den anhaltenden Kampf um Frieden und suchen nach Lösungen, um der anhaltenden Gewalt zu entkommen. Die Publizistin und politische Aktivistin Fania Oz-Salzberger plädiert für eine humanistische Sicht auf den Zionismus und hebt die Wichtigkeit von Dialog und Zusammenarbeit hervor. Wie Grossman übt sie ebenfalls Kritik an dem kolonialistischen Diskurs und hegt die Hoffnung auf eine vollständige rechtliche Gleichstellung arabischer Israelis sowie auf die Schaffung eines palästinensischen Staates. Die Frage ist für mich, wie realistisch diese Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung in dieser aktuellen Situation ist.
Ksenia Svetlova untersucht die mediale Berichterstattung, die die Gräben zwischen Israelis und Palästinensern vertieft und die Verständigung erschwert. Svetlovas Aussage verdeutlicht, dass die Medien dazu neigen, zu vereinfachen und zu polarisieren. Deshalb fordert sie Initiativen, die den Dialog zwischen beiden Seiten fördern und die zu einem gegenseitigen Verständnis führen.
Gideon Reuveni schlägt vor, sich an den deutsch-israelischen Beziehungen zu orientieren, um Wege zur friedlichen Verständigung zu finden und die Debatte über Vergebung und Rache anzufachen.
Neben dem Trauma und dem Friedenswunsch beschäftigen sich die Autoren mit dem wiederaufflammenden Antisemitismus, der nach dem Hamas-Massaker sichtbar und laut zutage tritt. Die Autoren sagen, dass oft ein verzerrtes Verständnis von Israel und seiner Geschichte herrscht. Jaques Ehrenfreund kritisiert, dass Historiker die Ereignisse nicht in einen historischen Kontext eingeordnet haben. Die massiven und brutalen Handlungen an diesem Tag sind nur im Kontext vergangener Ereignisse zu begreifen. Er sagt, wer die Geschehnisse unmittelbar bewertet, unterschätzt und verdeckt den Antisemitismus sowie die antijüdischen Diskurse. Seiner Argumentation zufolge werden Juden erneut für die ihnen zugefügten Vergehen zur Verantwortung gezogen.
Eva Illouz setzt sich mit der Dualität von Kämpfen gegen Antisemitismus und Islamophobie auseinander. Sie übt Kritik an der Linken für ihre Allianz mit dem politischen Islam. Judith Butler wirft sie vor, durch ihre Schriften dem Antizionismus eine kultivierte Legitimation zu verleihen und die Hamas als bewaffneten Widerstand zu verharmlosen.
Kritische Würdigung
Die Stimmen aus Israel spiegeln die Komplexität der emotionalen und gesellschaftlichen Situation der israelischen Gesellschaft nach dem 7. Oktober 2023 wider. Die Texte sind Botschaften des Mitgefühls. Sie verdeutlichen, dass das Massaker nicht nur einzelne persönliche Schicksale erschüttert hat, sondern tiefgreifende Auswirkungen auf die gesellschaftliche und psychologische Ebene mit sich bringt. Die Autoren setzen sich intensiv mit persönlichen Erfahrungen, der Suche nach Sinn und Identität sowie dem gemeinsamen Bemühen auseinander, Wege zu finden, um mit Trauer und Trauma umzugehen. Dabei wird deutlich, dass die israelische Gesellschaft vor zahlreichen Herausforderungen steht. Dazu gehören die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, der Umgang mit den gefestigten Ängsten, der schwierige Weg zu einer möglichen Versöhnung mit den Palästinensern und der anhaltende Kampf gegen Antisemitismus. Mit Blick auf diesen, kommt außerdem zum Ausdruck, dass der Antisemitismus sich nicht nur gegen Juden, sondern gegen den Staat Israel richtet, wodurch historische Fakten verzerrt und antisemitische Strömungen weiter gestärkt werden.
Trotz der schmerzvollen Realität zeigen die Berichte gleichzeitig die Widerstandskraft und den Zusammenhalt der israelischen Zivilgesellschaft. Sie transportieren zudem einen Funken Hoffnung, indem unterschiedliche Visionen für eine bessere Zukunft skizziert werden. Diese reichen vom Mut zur Versöhnung über gemeinsame Initiativen bis hin zur gegenseitigen Anerkennung des erlittenen Leids. Der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben und einem respektvollen Miteinander zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte. Dabei wird deutlich, dass ein tiefes Verständnis der israelischen Geschichte und Identität sowie eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Konflikts unerlässlich sind, um einen Weg aus dieser Gewaltspirale zu einer friedlichen und gerechten Zukunft zu finden. Die Auseinandersetzung mit den Stimmen aus Israel liefert nicht nur einen bedeutsamen Einblick in die gegenwärtige Lage, sondern sie rüttelt uns zugleich auf, gängige Narrative kritisch zu hinterfragen.
Während ich die letzten Zeilen meiner Besprechung schreibe, wird der Aufruf »Bringt sie nach Hause« für einige der Geiseln Realität. Die Hoffnung auf Frieden erfüllt sich für die Familien. Dennoch bleibt der Deal zwischen der Hamas und Israel für Israel ein moralisches Dilemma. Denn mit der Freilassung von verurteilten Terroristen auf der palästinensischen Seite ist keine Deradikalisierung verbunden. Zudem ist die Gesellschaft innerlich zerrissen, zwischen denen, die ihre Angehörigen wieder haben und denen, die ihre Angehörigen durch die freikommenden Terroristen verloren haben. Dieser sogenannte Deal zeigt, wie die Berichte im Buch, dass es sich um ein komplexes und vielschichtiges Problem handelt, für das es keine bequemen Antworten und Lösungen gibt.
Jüdischer Almanach der Leo Beack Institute. Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem, 7. Oktober. Stimmen aus Israel, Broschur, Suhrkamp Verlag, Jüdischer Verlag Berlin 2024, 1. Auflage, 200 Seiten, ISBN 978-3-633-54333-5, Euro 23,00
© Soraya Levin