In „Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus“ zeigt der Historiker und Journalist Michael Wolffsohn die alarmierende Realität des anhaltenden und erstarkenden Antisemitismus auf. War das „Nie wieder“ nach dem barbarischen Verbrechen des Holocaust nicht ein Versprechen, eine solche Entmenschlichung nie wieder zuzulassen? Waren wir nicht bereit, aus der Geschichte zu lernen, derartige Gräueltaten in Zukunft zu verhindern und jeder Form von Antisemitismus die Stirn zu bieten? Waren unsere Bemühungen und das Eintreten zur Bekämpfung des Judenhasses nicht mehr wie Lippenbekenntnisse? Mit den beiden Wörtern „Schon wieder!“ im Buchtitel gibt Michael Wolffsohn eine offenkundige Antwort. Nie wieder Judenhass bleibt eine mit hohlen Worten beladene Aussage. Dieses zeigt sich nach Wolffsohn zum einen an der latenten Präsenz des Antisemitismus nach dem Holocaust. Zum anderen ist ein weltweiter Anstieg des Judenhasses, speziell nach dem Massaker der Hamas, erkennbar.
Dieser Prozess führt vor Augen, dass Juden weiterhin antisemitischen Ressentiments, Diskriminierung, Angriffen und, wie der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 belegt, Massakern ausgesetzt sind. Der Autor weist auf die internationale Legitimierung der Übergriffe mit dem Argument der Siedlungspolitik im Westjordanland hin. Ebendarum stellt der Kampf gegen den Antisemitismus eine der dringendsten sozialen Aufgaben dar. Wie Wolffsohn betont, ist diese Aufgabe kein einmaliges Unterfangen, sondern ein kontinuierlicher und dringender Prozess, der im widersprüchlichen Titel »Nie wieder?« »Schon wieder!« zum Ausdruck kommt.
Michael Wolffsohn konfrontiert die Leserschaft mit der gesellschaftlich widersprüchlichen Haltung zum Antisemitismus. Er stellt sich die Frage, wie Deutschland mit seiner Geschichte, dem bestehenden Antisemitismus in der Gesellschaft und dem deutsch-israelischen Verhältnis umgeht.
Der Autor zieht Parallelen zwischen der NS-Zeit und den gegenwärtigen Angriffen auf unsere Erinnerungskultur. Mit klaren Worten betont er, dass das Holocaust-Mahnmal in Berlin, als Symbol für das Gedenken an die Opfer des Holocaust und als Mahnung, Antisemitismus zu erkennen und ihm entschieden entgegenzutreten, ohne einen notwendigen Schutz nicht auskommt.
Er veranschaulicht die aktuelle Bedrohung der Juden durch seine eigenen Erfahrungen. Hörten seine Großeltern und Eltern im Hitler-Deutschland die Rufe „Juden raus“ und „Jude verrecke“, so sind im Nachkriegsdeutschland weiterhin Parolen wie „Tod den Juden“ und „Tod für Israel“ zu hören. Die ethisch und moralisch grenzüberschreitenden Ausrufe finden weltweit Resonanz. Diese kontinuierliche Entwicklung untermauert Wolffsohn durch seine persönlichen Erfahrungen auf den Straßen von Berlin-Neukölln nach dem Hamas-Terroranschlag vom 7. Oktober 2023. Der Autor unterstreicht mit der aufgezeigten Realität die anhaltende Bedrohung für die jüdischen Gemeinden.
Nach Wolffsohn treiben historische und aktuelle politische Lagen diese Bedrohung voran und verstärken sie. Der Autor verweist beispielhaft in diesem Kontext auf UN-Resolutionen, die einseitig gegen Israel gerichtet sind, auf den Vorwurf des völkerrechtswidrigen Verhaltens in Bezug auf das Westjordanland, auf die Israelkritik der Postkolonialisten und auf die Problematik des Gazastreifens.
Zum 9. November, dem Gedenktag für die Reichskristallnacht 1938, hat Wolffsohn zwei Reden geschrieben. Beide verdeutlichen die sich zuspitzende Lebenslage für Juden. Nach dem blutrünstigen Hamas-Massaker stellt er der ersten nicht gehaltenen Rede eine zweite Rede gegenüber, die eine sich für Juden akut verschlechternde Lage darstellt und in ihrem Kontext alarmierend klingt.
Die nicht gehaltene Rede verdeutlicht das kritische Bewusstsein von Wolffsohn für den eskalierenden Antisemitismus.
Durch die Offenlegung seiner eigenen Familiengeschichte und ihrer Erfahrungen mit dem Judenhass in Deutschland schafft Wolffsohn eine authentische und persönliche Perspektive auf die historischen Ereignisse. Über diesen Weg verbindet er die Abstraktion des Antisemitismus mit direkten Auswirkungen auf die Familie.
Der Autor macht sichtbar, wie die Nazis seine Familie verfolgen und entrechten. Ihr Schicksal verknüpft er mit historischen Ereignissen wie der Reichskristallnacht und dem Fall der Berliner Mauer. Trotz ihrer Flucht und dem Überleben des Holocaust kehrt die Familie von Michael Wolffsohn nach Deutschland zurück und demonstriert damit ihr Vertrauen in das neue demokratische Deutschland. Dieses Vertrauen ist bald durch den jahrelangen Kampf seines Vaters um die Rückerstattung des systematisch enteigneten und konfiszierten Eigentums seines Großvaters im Jahr 1933 erschüttert. Dieser von Wolffsohn beleuchtete Prozess offenbart die anhaltende Diskriminierung von Juden im Nachkriegsdeutschland. Die deutsche Nachkriegsjustiz zögert, das zu Unrecht entzogene Eigentum der Familie Wolffsohn zurückzugeben. Michael Wolffsohn bezeichnet dieses Vorgehen als „zweite Arisierung“.
In seiner nach dem 7. Oktober 2023 verfassten Rede benennt Wolffsohn diesen nach dem Holocaust erneuten Zivilisationsbruch als „schwarzen Sabbat“. In dieser Rede analysiert und verurteilt er scharf den aktuellen Antisemitismus in Deutschland und weltweit. Seiner Meinung nach ist dieser Antisemitismus erkennbar von links-liberalen und linksextremen Gruppen sowie dem Islamismus gefördert und gesellschaftlich verankert.
Der Autor fordert die Deutschen auf, sich der realen »jüdischen« Wirklichkeit zu stellen. Eine Wirklichkeit, die Michael Wolffsohn anhand von historischen Realitäten aufzeigt. Am Beispiel von Heinrich Heine belegt er, dass eine Konversion keinen Schutz vor einem in der europäischen Geschichte tiefgehend verwurzelten Antisemitismus bietet.
Eine weitere beleuchtete Wirklichkeit ist die Haltung führender deutscher Politiker über Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel, Olaf Scholz und Sigmar Gabriel zu Israel. Er erwähnt ein frühes Bombenattentat linksextremer Gruppen auf Heinz Galinski im Jahr 1969, das ohne nennenswerte Folgen verlief.
Dem Autor ist es ein Anliegen, den gesellschaftlichen Blick nicht einseitig auf den Rechtsextremismus, sondern ebenfalls den Linksextremismus sowie den Antisemitismus in linksgerichteten Kreisen und in der kulturellen Elite zu richten. Ebenso ist der Antisemitismus innerhalb muslimischer Gemeinschaften zu beleuchten, da der Autor betont, dass sich ein Bild abzeichnet, dass die größte derzeitige Bedrohung für Juden islamistische Extremisten und die islamische Welt sind. Er belegt seine Aussage mit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 und der folgenden Solidarisierung zehntausender Menschen mit den Terroristen. Die Legitimierung des Massakers, die Wolffsohn anspricht, deutet primär auf eine Sympathiebekundung breiter Massen mit den Zielen und den Methoden der Hamas hin. Ein wesentliches Ziel ist die Vernichtung Israels. Das gewählte Instrument reicht von der Bombardierung bis zum Massaker.
Jüdisches Leben war und ist, sagt der Autor, eine »Existenz auf Widerruf«. Wolffsohn bringt mit der Aussage zum Ausdruck, dass jüdisches Leben auf Dauer bedroht ist. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist nach Wolffsohn ein treibender Katalysator, der judenfeindliche Haltungen explosiv vorantreibt.
Diese anwachsende kritische Lage verstärkt sich nach Wolffsohn durch den »Wettbewerb der Massen«, indem die judenfreundlichen und proisraelischen Stimmen durch demografische und demokratische Veränderungen zunehmend an Gewicht verlieren.
Wolffsohn zeichnet ein düsteres Bild für das jüdische Leben in Deutschland, das seiner Meinung nach in seinem Fortbestand ernsthaft gefährdet ist. Besorgniserregend ist die sich beschleunigende antijüdische Entwicklung in den USA. Israel als sicherer Hafen für bedrohte Juden steht langfristig infrage, da der Staat zunehmend in seiner Existenz gefährdet ist.
Der Autor schlägt ein Bündel von Maßnahmen vor, um die jüdische Gemeinschaft in Deutschland besser zu schützen und dem Antisemitismus entgegenzuwirken. Handlungsempfehlungen sind etwa die deutliche Anerkennung des Existenzrechts Israels, eine Demokratiestärkung, Strategien innerhalb der Bildung und der Erinnerungskultur, funktionale Toleranz, ein eindeutiges Einschreiten gegen jeden Antisemitismus und Beseitigung von Plattformen, die ihren Antisemitismus in einer israelkritischen Rhetorik verpacken.
Mit „Nie wieder? Schon wieder!“ legt Michael Wolffsohn eine Untersuchung von hoher Aussagekraft über den anhaltenden und wiedererstarkten Antisemitismus in Deutschland und der Welt vor. Er führt vor Augen, dass sich die Antisemiten, die hinter den Kulissen der Israelkritik agiert haben, lautstark und sichtbar auf die gesellschaftliche Bühne in Deutschland und der Welt begeben. Das Buch ist aus diesem Grund mehr wie ein besorgter Weckruf. Es ist ein dringender Appell zum Handeln an die Gesellschaft, dem Antisemitismus entgegenzutreten, um die Einhaltung des Versprechens „Nie wieder“ sicherzustellen. Das "Nie wieder" ist mit dem Gedenken an den Holocaust verbunden und der Aufforderung, derartig entmenschte Verbrechen nicht wieder zuzulassen. Dieser historischen Bedeutung ist Rechnung zu tragen. Stimmen einer ernsthaften Auseinandersetzung, die Wolffsohn mit der Geschichte und dem Antisemitismus von der Gesellschaft fordert, sind augenfällig in der Minderzahl. Das »Nie wieder?«, das Wolffsohn im Titel seines Buches führt, ist missbräuchlich bei den Demos gegen rechte Strömungen verwendet und instrumentalisiert. Damit verkommt es zum reinen Schlagwort. Das eigentliche Anliegen, der Kampf gegen Antisemitismus, rückt in den Hintergrund und ist marginalisiert. Das Thema des Antisemitismus verschwindet aus der öffentlichen Debatte. Michael Wolffsohn trägt mit seinem Buch dazu bei, den aktuellen Diskurs zum Kampf gegen den Antisemitismus aufrechtzuerhalten.
Michael Wolffsohn, Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024, 1. Auflage 2024, Gebunden, 96 Seiten, ISBN: 978-3-451-07239-0, 12,00 €
© Soraya Levin