Was treibt eine Lehrerin um, über die belastete deutsche Geschichte des Nationalsozialismus ein Buch zu schreiben? Es ist ihre Wut über das historische Erbe des verzerrten Opfer-Täter-Bildes und deren Nachkommen. Karin Weimann nimmt wie in Camus „Der Mensch in der Revolte“ diese historische Absurdität des Sisyphos nicht an und initiiert an der 1. Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik in Berlin und der Berufs- und Fachoberschule für Sozialwesen in Berlin-Charlottenburg einen schulischen Gedenktag zum 27. Januar zum Gedenken und zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus.
Es geht um die gesellschaftliche Aufklärung und an dieser Stelle um unsere Jugend. Es geht um die kollektive Relativierung von Schuld und Verantwortung, um Leidenswege, um Verdrängung und Verleugnung, um die Betroffenheitsrhetorik, um antisemitische Stereotype durch tradierte Denkmuster, um die Frage nach dem Guten und dem Schlechten. Es geht darum, die Opfer und die Täter und deren Nachkommen aus der Anonymität herauszuholen, sich auch trotz der Abwehrmechanismen bereitwillig zu erinnern und um die Hoffnung auf den Mut, widerständig zu sein.
Sisyphos’s Erbe beschreibt diese über 14 Jahre gesammelten Erfahrungen des jährlichen schulischen Gedenktags und verdeutlicht die Umstände, die unsere Zivilgesellschaft gefährden.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Konzeption und der Gestaltung des jährlichen Gedenktags. Es folgt ein sehr umfassender reflexiver Teil. Inhalte sind die Formen der Abwehrmechanismen und Verweigerungshaltungen der Täter und deren Nachkommen, Moral und Möglichkeiten der Annährung zwischen Täter und Opfer sowie schulische Konflikte bei der Umsetzung des Gedenktags. Der dritte Teil stellt die Frage, was zu tun ist, um menschenverachtenden Haltungen und Handlungen entgegenzuwirken. Der vierte und letzte Teil ist ein detaillierter Anhang mit Daten und Hintergrundinformationen zu den im Buch genannten Autoren, mit einer Programmdokumentation des jährlichen Gedenktags, mit Briefen, Reden und einem Literaturverzeichnis.
Karin Weimanns Initiierung des Gedenktags ist sehr mutig, denn sie konfrontiert das Kollegium und Schüler nicht nur mit den Opfern und deren folgenden Generationen, sondern mit dem Blick auf die Täter und deren Nachkommen. Eine Perspektive, die erstmals auf die eigene negierte Familiengeschichte und damit auf das familiäre Selbstbild gerichtet ist.
Gerade Schule als Institution mit dem Auftrag von Bildung und Erziehung hat in Bezug auf die Erinnerungskultur eine besondere Verantwortung. Karin Weimann führt die Professorin Astrid Messerschmidt vom Institut für Pädagogik und Berufspädagogik an der TU Darmstadt an, die die Erinnerungsarbeit der Shoah weitgehend aus dem pädagogischen reflexiven Diskurs verschwunden sieht. Diesen verschwundenen reflexiven Diskurs hat Karin Weimann versucht, wiederzubeleben. In Arbeitsgruppen setzen sich die Lernenden und Lehrenden mit geladenen ehemaligen Opfern, Tätern und Mitläufern in Gesprächen, Lesungen und musikalischen Darbietungen auseinander. Der Opferkreis geht über die Opfer der Shaoh hinaus und umfasst alle Auschwitzopfer. Auch außerschulische Lernorte wie das Haus der Wannseekonferenz werden besucht. Es geht nicht nur um die kognitive Ebene, sondern auch um die emotionale, um den Erfahrungsaustausch und die Weitergabe von Erinnerung. Denn diese ist wesentlicher Ausdruck und entscheidend dafür, welche Werte und Haltungen unsere Gesellschaft heute und zukünftig trägt. Daher ist dieser Gedenktag sicherlich ein Meilenstein für die Schärfung des Demokratiebewusstseins junger Menschen.
Karin Weimann spricht von der Entwicklung einer Ethik des Mitgefühls. Hier liegt der philosophische Gedanke Arthur Schopenhauers nahe, der davon ausgeht, dass die Basis im menschlichen Bewusstsein das Mitleid sein muss, um die Grenzziehung zu dem Anderen aufzuheben.
Es geht neben dem Mitgefühl um die Verantwortung, die sich 2008 in der Vereinsgründung des Vereins Erinnern und Verantwortung e.V. aus der schulischen Gedenktagarbeit zeigt. Die Schirmherrschaft des Vereins hat der mittlerweile verstorbene Publizist Ralph Giordano übernommen gehabt. Ich denke, es ist eine gute Wahl, denn Giordano hat den Begriff von der zweiten Schuld geprägt.
Eine Schuld, die Giordano tief in der deutschen Nachkriegskultur verankert gesehen hat. Eine Nachkriegsgesellschaft, die ihre erste Schuld, nämlich Teilhaber und Mitträger eines verbrecherischen Systems gewesen zu sein, nicht wahrhaben will, sie daher verleugnet und verdrängt. Karin Weimann benennt diesen Teil mit „Sprache als Instrument der Verschleierung“, „Mit-Gift“, „Blinde Flecke“, „(Ver)Weigerungen“. Denn im Sinne von Giordano zu sprechen, wird die erste Schuld verschleiert.
Sprache ist immer eine Projektionsfläche für unsere gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Haltungen.
Daher wird in Sisyphos’ Erbe diese „zweite Schuld“ unter dem Blickpunkt der angewandten Sprachideologie kritisch beleuchtet. Da ist die schuldhafte Verstrickung des Einzelnen, die nach außen auf die Institution „Nazi“ übertragen wird. Der Einzelne, der mitgejubelt hat, der mitgelaufen ist, der mitgemacht hat, der profitiert hat, ist entweder wie der zitierte Wilhelm Röpke es gesagt hat, ein Werkzeug oder innerlich widerständig gewesen und unfähig vor Angst zur Zivilcourage. Das Ergebnis dieser Gleichung ist nicht nur die Schuldfreiheit der eigenen Familie, sondern die Fokussierung auf den Krieg und das eigene Leid.
Politisch zeigt sich die verfestigte und verharmlosende Sprachideologie an dem von Karin Weimann gewählten Beispiel von Konrad Adenauer und Willy Brand, die das Leben in der Ostzone und der späteren DDR mit einem KZ der Nazis vergleichen.
Ein weiteres genanntes Beispiel der insbesondere vor dem familären Verstrickungshintergrund gewählten Sprachideologie ist die Frage „Wie hätte ich mich denn verhalten?“. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass die Antwort immer fiktiv ist und die Frage eine moralische Überlegenheit impliziert. Ein Urteil - hier nicht nur ein historisches, sondern ein ethisch-moralisches - ist bei dieser Frage von vornherein ausgeschlossen. In Bezug auf die Ethik und die Moral handelt es sich hierbei um eine nachträgliche Legitimiation und eindeutige, wenn auch vielleicht unbewusste Loyalitätsbekundung der Nachfahren gegenüber ihren Familien.
In diesem Zusammenhang atmen die Nachfahren auch gern auf und bekunden ihr Glück der „Gnade der späten Geburt“ als weitere enttarnte Sprachideologie, auf die in Sisyphos’ Erbe zurecht verwiesen wird.
Hier stellt sich mir die Frage nach der Bedeutung dieser Gnade? Sie sind dank ihrer „Spätgeburt“ die nochmal Davongekommenen. Davongekommen von der Teilhabe an einem menschenverachtenden Verbrechen. Der Journalist Günter Gaus, der diesen Begriff in einem anderen Kontext gebraucht hat, sieht hierin den Missbrauch für eine Schlussstrichdebatte. In letzter Konsequenz werden die Nachkommen der Täter durch diese Gnade der späten Geburt aus ihrer Verantwortung und damit aus der Verpflichtung, sich moralisch gegen die rassistische und antisemitische Gefahr zu stellen, entlassen. Wie Giordano gesagt hat, droht ein erneuter „Verlust der humanen Orientierung“.
Die Davongekommenen sind nicht die, die überlebt haben, sondern die, deren Verbrechen nicht belangt worden sind, wie Karin Weimann aufzeigt. Es sind diejenigen, die ihren gesellschaftlichen Platz ungehindert wieder eingenommen haben. Die, die Auszeichnungen und Ehrungen bekommen haben. Die, deren Taten verschwiegen oder nachträglich bagatellisiert worden sind. Die, die durch Sprache entlastet sind. Es sind die im Buch genannten Holthusens, die Gadamers, die Carlo Schmidts, Horst Richters und viele viele mehr. Da haben zum einen „Alle“ nur an etwas Falsches geglaubt und die Entwicklung falsch beurteilt. Dieser in Sisyphos’ Erbe aufgezeigte Duktus verdeutlicht: sich irren ist nie mit Absicht. Das geborene unbeabsichtige Balg hieß dann eben mal Auschwitz.
Sisyphos’ Erbe macht die Entlastungskette sichtbar. Neben ehemaligen Wehrmachtsoffizieren sogar das ehemalige Mitglied der Hitlerjugend Papst Benedikt XVI. Im Jahr 2011 spricht er im Bundestag auf den Nationalsozialismus bezogen von einer Räuberbande.
Da assoziiere ich, ja, auch Räuberbanden haben einen Anführer, ihren Räuberhauptmann, vielleicht Robin Hood? Oder Hotzenplotz? Nein, in diesem Fall Hitler.
Die Autorin verweist darauf, dass der Täterkreis nicht eine Bande gewesen ist, sondern die Mehrheitsbevölkerung, unter die auch die Christen zu subsummieren sind.
Eine Mehrheitsbevölkerung, die für die einen - wie den im Buch genannten Volker Schlöndorf - missbraucht worden ist. Missbrauch, das klingt für mich nach Opfer.
Wer versucht hier was zu bewältigen? Karin Weimann weist in ihrem Buch mit Holthusen und Améry darauf hin, dass das Vergange nicht bewältigt werden kann.
Während Hans Egon Holthusen 1966 seinen wundervollen Essay „Freiwillig zur SS“ schreibt und von seiner wundervollen SS-Uniform schwärmt und die Leser seine entlastenden Worte herzlich finden, antwortet das tatsächliche Opfer Jean Améry ‚Sie gingen zur SS, freiwillig, ich kam anderswo hin, ganz unfreiwillig’. „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt. ... Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“, sagt Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten.
Wie Améry schreibt, bleibt die Bewältigung lediglich ein Versuch.
Die Notwendigkeit der Erziehung der Schüler in Richtung Adornos Autonomie wie sie in Sisyphos’ Erbe betont wird, ist ein wichtiger Beitrag zur Verbrechensverhinderung und Erhalt unserer freien Gesellschaft. Da meines Erachtens das Zeitalter der Aufklärung nach Kant noch andauert, ist es ein kleinschrittiger aber notwendiger Anteil an diesem komplexen Prozess. Ob er erfolgversprechend ist? Sisyphos’ Erbe zitiert den Historiker und Holocaustüberlebenden Joseph Wulf, der kurz vor seinem Freitod an seinen Sohn schreibt: „Ich habe achtzehn Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht und das alles hat keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren.“. Gerade deswegen ist sich zu erinnern, die einzige Chance. Hier kann durchaus ein Bezug hergestellt werden zu dem in der hebräischen Bibel vielfach vorkommenden Wort „Sachor“, das darauf verweist, dass die Existenz nur durch die Erinnerung gesichert ist.
Insbesondere unter dieser Perspektive ist die Überlebenserfahrungs- und die ererbte Erfahrungsweitergabe von Opfern und Tätern wichtig. An diesem Punkt sieht Karin Weimann auch die Gefahr der Abnutzung und Leidensinstrumentalisierung.
Es bleiben offene Fragen hinsichtlich der Organisation des Gedanktages sowie die der Einbeziehung der Schüler, die einen Migrationshintergrund aufweisen. Der zitierte Hanno Loewy grenzt die Zugewanderten nicht aus der deutschen Vergangenheit aus, da dieser Ausgrenzungsprozess deutsche Identität einzig und allein auf die Historie runterbrechen würde. Astrid Messerschmidts Antwort auf Loewy, ist, dass sich der Nationalsozialismus mit dem Holocaust nicht zur Enkulturation in Bezug auf die Identitätsbildung eignet. Und die Autorin selbst? Ihr „ist unverständlich, warum der Sorge vor einer möglicherweise unzumutbaren Beschäftigung der Angehörigen anderer Kulturen mit der deutschen Verbrechensgeschichte eine ‚Identität der Ausgrenzung’ [...] zugrunde liegen sollte.“. Sie sagt, dass sich zunächst die deutsche Erbengemeinschaft mit ihrem Erbe beschäftigen muss. Dieses Erbe steht jedoch als Lernfeld allen anderen Kulturen offen, „wenn sie denn wollen“.
Mit „wenn sie denn wollen“ lässt die Autorin der Erinnerungsteilhabe meines Erachtens jedoch zuviel Raum.
Es ist nicht ihre Geschichte. Soweit richtig. Unabhängig woher die Eltern oder sie selbst kommen, gehören sie zu diesem Land und damit wird auch die Geschichte der Mehrheitsgesellschaft, der Nationalsozialismus, ein Bestandteil von ihnen. Das Geschichtsbild sollte für die nicht Zugewanderten und für die Zugewanderten identisch sein. Denn wie soll sonst die Erinnerungsarbeit alle erreichen? Insbesondere vor dem Hintergrund antisemitischer Einstellungen und auch homophober Haltungen ist dieses ein wichtiger Aspekt. Es geht letztendlich für alle darum, zu erkennen, welche Mechanismen wirken, um unser friedliches demokratisches Zusammenleben zu gefährden. „wenn sie denn wollen“, reicht daher nicht aus. Dass die einen familiär verstrickt, die anderen nicht verstrickt sein können, impliziert nicht das Recht, sich dem Erinnerungsdiskurs zu entziehen. Denn auch diejenigen, deren Eltern oder die selbst zugewandert sind, tragen in einer Demokratie Verantwortung für diese. Karin Weimann sagt, dass ein Menschenbild notwendig ist, „das von der Achtung gegenüber den universell gültigen Menschenrechten geprägt ist“. Und gerade auf dieses geprägte Menschenbild sollten meiner Meinung nach alle Schüler einen Anspruch haben, ob zugewandert oder nicht.
Karin Weimann sagt, „Der Mensch ist zu Güte und Mitmenschlichkeit fähig.“. Der Begriff „fähig“ deutet bereits darauf hin, dass der Mensch auch fähig ist, unmenschlich zu handeln. Zur Güte und Menschlichkeit hin muss erst erzogen werden. Karin Weimann zeigt mit dem Gedenktag, dass die Schule an dieser Stelle einen wesentlichen Beitrag nicht nur leisten kann, sondern auch muss.
Güte und Mitleid für die Opfer und daher auch die Würdigung aller Opfergruppen am Gedenktag. Hierdurch soll zum einen verdeutlicht werden, wie schnell man selbst Opfer werden kann. Es ist richtig, sich in der Erinnerungskultur auf alle Opfer zu konzentrieren. Die gewählte Wortwahl jedoch, dass allein die Konzentration auf die Holocaustopfer eine Kränkung für alle anderen Opfer gewesen wäre und dass daher kein Anspruch auf Exklusivität sein kann, finde ich an dieser Stelle nicht passend.
Die Frage bleibt, ob dieser Gedenktag es schafft, dass „die Schüler überhaupt den Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus und der Teilhabe ihrer eigenen Familie sehen.“. Denn das familiäre Gedächtnis entkoppelt die Teilhabe an diesem störenden nationalsozialistischen Umfeld. Handlungsalternativen sind daher in der historischen Tradierung nicht denkbar.
Es ist nicht die Frage, was können wir im Gedächtnis behalten, sondern die Frage, was wollen wir im Gedächtnis behalten? Die Erinnerung an die Nazibarbarei verdrängen, endlich einen Schlussstrich ziehen, sie sachte unsichtbar werden lassen und uns der Gleichgültigkeit gegenüber Ausgrenzung und extremen Menschenrechtsverletzungen hingeben oder die „permanente Revolte“. Karin Weimann ist ein derartiger Sisyphos, denn sie geht über Jahre immer wieder als Vorbild voran. Sie setzt etwas gegen das Vergessen, nämlich den schulischen Gedenktag als Protest.
Es ist ein Teilaspekt der moralischen Bildung hin zur Widerständigkeit gegenüber menschenfeindlichen Werten und Handlungen. Eine Bildung, die Wirkmechanismen des Zivilisationsbruchs versucht transparent zu machen, die Empathie und Mitgefühl erzeugt, die den Zusammenhang zwischen der Täter- und Opfergeneration zeigt, die die Opfer würdigt und die Handlungsspielräume eines jeden sichtbar macht.
Sisyphos’ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens ist tatsächlich als ein anderes, ein besonderes Geschichtsbuch zu werten. Es ist jedoch zu kurz gegriffen, es nur als Lehrbuch zu sehen. Es ist auch ein zu empfehlendes Instrument für die schulische Praxis, das die Pädagogen ermutigt, selbst im Bereich der Erinnerungs- und Gedenkkultur aktiv zu werden.
Karin Weimann, Sisyphos’ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens, Lichtig-Verlag, Berlin 2013, 624 Seiten, ISBN 978-3-929905-28-1, EUR 21,50