Kann man in einer Stadt wie Zürich orthodoxer Jude sein, ohne von der Moderne überrollt zu werden? Auf eine sehr humorvolle Weise, mit jiddischem Sprachschuss versehen, erzählt der Autor Thomas Meyer in seinem Roman Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse wie jüdisch-orthodoxe Rituale die Moderne zähmen und eine Jüdischkeit ohne Fesseln auf Widerstand stößt.
Der, der da gefesselt in die Freiheit stolpert, ist Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti.
Ein Nesthocker, der sich im täglichen Kampf mit seiner Mutter befindet. Denn Motti ist mit über zwanzig Jahren noch immer ohne Frau und das versucht seine Mutter auf ihre Art zu ändern. Sie arrangiert ein Treffen nach dem anderen für Motti. Er arbeitet alle Verabredungen ab, doch keine der ihm angebotenen jüdischen Frauen sagt Motti zu.
Die einzige Frau, in die er sich verliebt, ist seine Studienkommilitonin. Sie heißt Laura und ist nicht jüdischen Glaubens. Ein religiöser Hinderungsgrund der Versuchung zu widerstehen. Motti beginnt dieses fremdbestimmte Leben in Frage zu stellen. Warum kann er nicht lieben, wen er will? Sein festgelegter Lebensweg gefällt ihm plötzlich nicht mehr. Er beginnt ein Stück seines orthodoxen Profils zu verändern, legt sich eine neue Brille im Woody Allen Stil zu und rasiert sich den Bart ab.
Mottis Mutter leidet unter ihrem außer Kontrolle geratenen Sohn. Der Rabbi soll helfen. Die Lösung heißt Israel. So fliegt Motti nach Tel Aviv zu seinen Verwandten. Er lernt eine erotische jüdische Frau kennen und bricht ein Tabu. Sex vor der Ehe. Es ist sein erstes Erlebnis dieser Art, das ihm sichtlich gefällt. Es bleibt nicht nur bei der sexuellen Befreiung. Er befreit sich auch vom Dogma der schwarz-weißen Kleidung. Statt schwarzer Hose streift er sich eine Jeans über und zieht statt eines weißen Hemdes wagemutig bunte Shirts an. Mag es an seinem veränderten Outfit liegen oder an seiner veränderten Art. Zurück in Zürich interessiert sich plötzlich Laura für ihn. Motti erliegt nicht nur den Verführungen der Schickse, sondern auch denen der fremden Welt. Er geht auf Partys, nimmt Rauschmittel, trinkt Schnaps statt Wein und hört moderne Musik. Er taumelt zwischen seiner neuen Freiheit, der Familie und den strengen religiösen Regeln hin und her. Die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter werden heftiger und enden im Ausschluss aus der schützenden Familie. Jetzt ist Motti auf sich selbst gestellt. Ernüchtert stellt er fest, dass Laura nicht sein Verständnis von Liebe und Freiheit hat.
Vielleicht hat Thomas Meyer seinen Protagonisten bewusst mit einem Wolkenbruch in Zusammenhang gebracht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls bezeichnet der Name genau das, was mit Motti passiert. Eine kurze plötzlich heftig hereinbrechende Liebe prasselt auf Motti nieder und flutet sein bisheriges Leben.
Dieser Wolkenbruch, von dem der Ich-Erzähler Mordechai Wolkenbruch überrascht wird, ist ein ernstes Thema. Es geht um ein Leben in einer parallelen Welt, das bestimmt wird durch ein jüdisch-orthodoxes Regelwerk. Eine religiöse Strömung innerhalb des Judentums, die den Lebensweg und den Sinn des Lebens durch strenge Glaubensrituale vorgibt, die keine Kompromisse zulässt und den Alltag der Gläubigen außerhalb der Moderne bestimmt. Individualisierte Lebensformen sind nicht möglich. Thomas Meyer lässt seinen Protagonisten eine liberale Jüdischkeit für sich entdecken, die auf der einen Seite einen Gewinn mit sich bringt, der da heißt Freiheit. Auf der anderen Seite ist der Gewinn der Freiheit überschattet mit dem Verlust der Familienbande. Beide Male ist Motti ein Ausgegrenzter. Als jüdisch-orthodoxer Gläubiger aus der bunten Moderne und als liberaler Jude aus der orthodoxen Familie. Was für Motti bleibt ist zunächst die Einsamkeit und die Erkenntnis, dass nicht-jüdische Frauen wie Laura ihr eigenes Verständnis von Freiheit haben.
Thomas Meyer, Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse, Roman, gebunden, 288 Seiten, 2012, Salis Verlag AG, Zürich, € (D) 24.90 / CHF 34.80 / € (A) 25.60, ISBN 978-3-905801-59-0
© Soraya Levin