William Gaddis will viel. Mehr als 1200 Seiten in einer Weitwinkelaufnahme. Kompliziert ist dieser Roman der Postmoderne, an dem der Autor sieben Jahre gearbeitet hat. Dieser bereits 1955 veröffentlichte Roman hat bislang keine Massen erreicht. In der Kritik ist er vielmehr umstritten. Für die einen ist Gaddis ein literarisches Talent, für die anderen ist er als vermeintlicher Künstler entlarvt. Genau das ist das Thema dieses an Chaos grenzenden Romans.
Im Fokus der über drei Jahrzehnte neben einander kreisenden Handlungsstränge steht die philosophische Grundfrage nach der Wahrheit.
Eine Frage, die im Sinne von Platons Wahrheitsdefinition nicht nur durch den Protagonisten Wyatt Gwyon durch das Buch getragen wird. Viele Nebenfiguren entzaubern die vermeintliche Wahrheit in der Kunst, der Religion und der Liebe.
Gaddis lässt die vom Ersten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre hineinreichende Handlung in Spanien mit einem Tod beginnen und enden.
Am Anfang steht das Ende der Pfarrersfrau Camilla Gwyon. Bei der Überfahrt von Neuengland nach Europa stirbt sie durch die Fehlbehandlung des vermeintlichen Schiffsarztes Mr. Sinisterra, der sich als gesuchter Fälscher entpuppt.
Es folgt eine Fülle von Storykurven, Seiten und Jahre vergehen und kein Gedanke mehr an den falschen Arzt. In einer Wohnung hängen sie wie Wäsche auf der Leine, die frischen 20 Dollarnoten, gefälscht von Mr. Sinisterra.
Gaddis Figuren tauchen in diesem Handlungsdickicht irgendwann wieder auf. Nur aufpassen muss man, dass man sie nicht verpasst.
Der calvinistische Pfarrer Gwyon lässt seine Frau Camilla in der falschen, in der katholischen Erde Spaniens zurück. Der Verlust treibt ihn in eine Glaubenskrise, die ihn vom wahren Pfad des Christentums abbringt. Er sucht nach dem längst Vergessenen hinter dem Christentum und findet die vermeintliche Wahrheit, den Aberglauben.
Heißt der Originaltitel des Romans „The Recognitions“ in der Übersetzung Wiedererkennung, erkennt der Leser ganz dem Thema des Romans verhaftet Goethes Faust wieder.
Es ist die Verbindung mit dem Teufel, die Gaddis Protagonist eingeht. Wyatt, der Sohn des Pfarrers Gwyon entwickelt sich zu einem talentierten Maler. Er beherrscht die Maltechnik der niederländischen Altmeister des 15. Jahrhunderts. Nur mit Kopien lässt sich kein Geld verdienen. In dieser Situation taucht Gaddis Mephisto, der Kunsthändler Recktall Brown mit einem verlockenden Angebot auf. Die neu gemalten Bilder der Altmeister werden dem Kunstmarkt als spektakuläre Neufunde offenbart. „Das Volk will betrogen sein, also wird es betrogen.“, lässt Gaddis eine weitere Figur der Kunstvermarktung sagen.
Gaddis schafft mit Wyatt eine extreme Figur, die in der Mischung aus genialer Künstler, Exzentriker und Süchtiger ihre Grenzerfahrungen auf der Suche nach der Wahrheit der Kunst macht. Wyatt wirkt geistig verwirrt und malt wie im Rausch. Wyatt unternimmt einen letzten Versuch sich von der Selbstentfremdung zu befreien. „Ein Künstler existiert ja nicht, außer vielleicht als Werkzeug seiner Kunst.“ und so zerstört er seine Bilder.
Wir finden Wyatt am Ende in einem spanischen Kloster wieder. Als Restaurator versucht er Kunstwerke in ihren Originalzustand zu versetzen. Bis auf den Grund trägt Wyatt die Farbschichten ab, um zu sehen, wo ist die Wahrheit und wo ist die Fälschung.
Ein Auszug aus der spanischen Tragödie steht sinnbildlich dafür, dass sich jeder seine eigene Wahrheit schafft.
Gaddis Figuren sind wie Bestandteile der spanischen Tragödie. Auf einer Vernissage begegnet der Leser dem abstrakten Maler. Genau der, der sich nicht der Realität verpflichtet fühlt und mit der Tradition und damit mit der abendländischen Malerei bricht, der hat Erfolg.
Der Komponist Stanley schafft über Jahre sein vermeintlich wahres Meisterwerk. In einer Kirche in Spanien kommt er zu Tode, da seine gespielten Bässe die Mauern zum Einsturz bringen.
Der Theaterschriftsteller Otto sieht sich Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Sein Werk „Die Eitelkeit der Zeit“ kommt den Verlegern bekannt vor. Ottos Drama zeigt, dass die Welt nichts Neues hervorbringt. Hier ist wieder der Bezug zu Faust und zwar dem zweiten Teil zu sehen. Denn auch durch den Tod des Sohnes von Faust und Helena, Euphorion, kommt Faust zu der Erkenntnis, dass die Welt durch die Poesie nicht dauerhaft verändert wird. Der Titel des Dramas „Die Eitelkeit der Zeit“ weist auf Ottos Geltungsstreben hin. Er simuliert eine Armverletzung als Mitbringsel einer Revolution in Lateinamerika. Auch der gewählte Titel des Dramas weist Ähnlichkeit zum Titel des Erfolgsromans „Jahrmarkt der Eitelkeit“ von Thackeray auf. Otto sucht ebenfalls nach diesem Triumph seines Werkes.
Mit Otto stellt sich eine Verbindung zu einer weiteren wichtigen Figur her, die Gaddis Mr. Pivner nennt. Mr. Pivner lebt allein und zurückgezogen. In seiner Wirklichkeit kommuniziert er mit den Werbestimmen im Radio. Ab und an spricht er am Telefon mit der Zeitansage. Ist für andere Figuren die Religion der wahre Weg, so ist es für Mr. Pivner die Literatur von Dale Carnegie, die ihm wahre Tipps für die Gestaltung seines Lebens gibt. Sein Leben verläuft ereignislos, bis sein Sohn Otto auftaucht. Hier ist sie wieder. Gaddis Querverbindung, mit der der Leser nicht rechnet.
In dieser gewaltigen Ansammlung von Details kann sich der Leser schon verheddern. Gaddis jagt den Leser wie im Faust II durch die künstlerischen Epochen.
Der Leser bewältigt hierbei Klimmzüge. Die enzyklopädische Leiter rauf in die Gespräche über die griechisch-römische Epoche, in die Antike bis zu den Vorsokratikern, die flämischen Maler des 15. Jahrhunderts, Richelieu, über die Renaissance, Kaiser Caligula und Demokrit, über Jesuiten, Calvinisten und Gott. Die Leiter runter und einsteigen in den banalen Alltag. Hier werden andere durch den Dreck gezogen, hier wird gelästert, hier ist man rassistisch und homophob, hier wird gesoffen, gepöbelt und gekotzt. Hier lügen Gaddis Figuren sich die Hucke voll. Hier sind sie, die aufgeblähten Künstler und schaffen sich ihre eigene Wahrheit in glänzenden Dialogen, Wortphrasen und Wortfetzen. Manch einer glaubt, er sei Schriftsteller und manch einer meint, da sitzt doch Hemingway.
Gaddis Figuren sind ein Sammelbecken an Kunst. Maler, Schriftsteller, Bildhauer, Musiker, die sich in New York in einer Künstlerkneipe treffen. Die sich auf einer chaotischen Weihnachtsfeier hinter ihren unwahren zur Schau getragenen Lebensmasken wieder erkennen.
Und der Leser? Der erkennt vielleicht den Herkules in sich, wenn er dieses großartige Schwergewicht bewältigt hat.
William Gaddis, Die Fälschung der Welt, Roman, mit einem Nachwort von Denis Scheck, Originaltitel: The recognitions, Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 1.232 Seiten, 2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, ISBN: 978-3-421-04519-5, € 34,99 [D] | € 36,00 [A] | CHF 46,90* (* empf. VK- Preis)
© Soraya Levin