Der Krieg überrollt Europa und die Welt. Das Geschäft mit den Toten floriert. Und inmitten dieses schmutzigen Sterbens und Verlierens geht das horizontale Gewerbe ohne Gegenwehr und siegreich weiter.
Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg erzählt von den florierenden Geschäften zwischen Sex und Tod.
Die Deutschen stehen vor Paris. Wer kann, ergreift die Flucht. Der Zuhälter Saint-Jean schnappt sich seine drei Frauen Fortuna, Roseline und Josette und verlässt die Stadt Richtung Spanien. Im Dunstkreis der Bomben, verlassener Häuser, dumpfer und lebloser Körper schleppen sie sich bei Nacht voran. Verabscheut jeder den anderen, verabscheut jeder sein Leben und sehnt sich nach einem anderen, sind die Frauen voller Wut auf ihren Körper und sich selber, hat Saint-Jean es endgültig satt, Zuhälter zu sein. Die blinde Fortuna verliert ihr gehasstes Baby und wie durch ein Wunder finden sie ein neues. Pierrots neues Leben zwischen Prostituierten und Zuhältern beginnt an nur einem Tag im Krieg. Sie ziehen weiter, kommen aber erst gar nicht bis Spanien. Ihre Endstation heißt Le Faubourg, das neue Bordell „La Riviera“ verspricht attraktive Kundenströme. Es ist die Zeit der Toten, „Europa krepierte vor Hunger aber Vonschwanz und Vonhoden standen da und wollten Huren“. Der Verräter neben dem Freiheitskämpfer widerstandslos auf der Hure. Im Sündenpfuhl vergnügt sich die Gestapo, nutzen die Kriminellen das Klima des Tötens für ihre schmutzigen Geschäfte, ist die Kluft zwischen Zuhälter und Pfarrer aufgehoben, glaubt Saint-Jean tatsächlich an ein anderes Leben, ist der kleine Pierrot unablässig auf der Suche nach einer Familie, nach Vater und Mutter, nach einem Stück Liebe.
An einem Tag landen die Alliierten, die Deutschen verwüsten auf ihrem Rückzug noch alles Menschliche, was sie finden, schälen die Seelen frei, radieren sie aus. An einem Tag feiern die Menschen in dem Ort Le Faubourg die Befreiung und setzen den menschlichen Ausverkauf fort, knüpfen die Collabos auf, stürzen sich auf Saint-Jean und seine Nutten. Geben den Zuhälter zum Abschuss frei, jagen hemmungslos die Frauen, rasieren ihre Haare, geißeln und bespucken sie.
Richard Morgièves Ich-Erzähler ist selbst ein Wunder. Weggeschmissen im Krieg, gerettet von einem Zuhälter und seinen Nutten. In diesem Klima von Tod inmitten der sterblichen Überreste läuft er weiter, der hemmungslose Sexbetrieb. Im Sündenpfuhl des Zuhälters Saint-Jean gehen sie alle vor Anker, sogar auf das gleiche Schiff, die Besatzer, die Mörder, die Kollaborateure und die scheinbar Makellosen. Hier feiern sie ausschweifend, sind freizügig und schwach. Zwischen dem Gelage die niedergerissenen menschlichen Leben und Träume. Es sind die Jahre der verwundeten Seelen, es ist die Zeit der Toten, die Zeit der Doppelmoral, die Richard Morgiève zeigt. Eine Moral, die wie vom Heißhunger besessen im Krieg alles Menschliche rodet und kahlschlägt, dumpfe Gewalt freischaufelt und Verrat schröpft. Eine schmutzige Moral im Ausverkauf, die sich festbeißt an Klischees und dem vermeintlich skandalösen Rändern der Gesellschaft wie den Zuhältern und Nutten.
Ein expressiv gesellschaftskritischer Roman, der die unbequeme Wahrheit der Scheinmoral ans Licht zerrt und einfach widerstandslos zum Lesen einlädt.
Richard Morgiève, Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg, Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schäfer, Claudia Steinitz, Originaltitel: Miracles et légendes de mon pays en guerre, 336 Seiten, € 22,90 [D], € 23,60 [A], sFr 41,50, claassen, Berlin Oktober 2009, ISBN-13: 9783546004336
© Soraya Levin