Jerzy Kosinskis in 2011 vom Arche Verlag wieder aufgelegter und erstmalig 1965 in den USA mit großem Erfolg veröffentlichter Holocaust-Roman stellt nicht den Vernichtungsprozess ins Zentrum. Der von autobiografischen Spuren gezeichnete Roman des polnisch-jüdischen Autors richtet den Blick auf die wuchernden Wurzeln um die Vernichtungsmaschinerie herum. Mit den Augen seines Ich-Erzählers zeigt er die Hilflosigkeit eines Jungen inmitten der bestialischen Realität.
Es ist Herbst 1939 in einer Stadt irgendwo in Osteuropa. Ein verzweifeltes Elternpaar ist in Sorge um ihr einziges Kind. Um ihren sechs Jahre alten Jungen vor der Deportation zu retten, lassen sie ihn von einem Unbekannten in ein Versteck bringen. In den Wirren des Krieges bricht die Brücke zu den Eltern ab.
Ein Feuer zwingt den Jungen sein Versteck zu verlassen. Vier Jahre flieht er durch ein archaisch vom Aberglauben geprägtes Land von Ort zu Ort. Er sieht nicht aus wie einer von hier. Die Bauern beschimpfen ihn als Zigeuner, als Juden, als einen vom Bösen Besessenen und statt den Jungen vor den deutschen Soldaten zu verstecken, beginnen sie eine Hetzjagd von Grausamkeiten und Misshandlungen.
Es ist die extreme Bösartigkeit, die Kosinski zeigt, die uns als Mensch nicht unberührt lässt, die Fragen an uns selbst stellt.
In einer Szene stülpen Bauern dem Jungen einen Sack über den Kopf, peitschen ihn aus und immer wieder schlagen sie auf seine eitrigen Wunden. Sie bewerfen ihn mit Steinen und wollen ihn lebendig begraben. Hier bleibt nichts unversucht, das Kind mit Lust zu quälen und zwar von Alten und Jungen, von Männern und Frauen. Der Leser weiß nicht, was noch kommt. In einer Szene werden Hunde auf den Jungen gehetzt, bohren sich Mistgabeln in den zitternden Körper. In einer anderen Szene buddelt eine Heilerin ihn bis zum Kopf in ein Erdloch und überlässt ihn den Krähen, die sein Gesicht in eine blutbesudelte fleischige Masse verwandeln. Dorfjungen spüren ihn auf und versenken ihn unterm Eis.
Kosinski beschreibt den tief verwurzelten menschlichen Sadismus. Da löffelt ein Müller in seiner Eifersucht dem Knecht die Augen aus, da lässt ein Vater einen Ziegenbock es mit seiner Tochter treiben, da rammen Weiber einem anderen Weib eine Jaucheflasche in den Unterleib, da vergewaltigt ein Bauer ein jüdisches Mädchen und kann sich nicht mehr von ihr trennen, da schneidet eine Hebamme das Mädchen in den Tod.
Das unaussprechliche Böse kann nicht mehr ausgesprochen werden. Der Junge verliert seine Stimme als die Bauern ihn in einer Jauchegrube ertränken wollen.
Dieses Buch ist eine Herausforderung für den Leser, denn Kosinski zeigt die pervertierte menschliche Natur. Die Wirklichkeit trägt das Gesicht des Bösen und sie ist Teil des Menschen. Die Auswüchse sind beklemmend. Wo es kein Mitleid mehr gibt, herrscht ein ethischer Pessimismus. Wo Ablassgebete des Jungen seine Qualen nicht lindern, verliert er den Glauben an Gott, möchte er Teil dieser Bestialität sein. Als die Eltern ihn wieder finden, hat sich die Abscheulichkeit längst in ihm entkeimt. Am Ende sind es Lichtflecke, die auf den Jungen fallen. Ein Unfall befreit ihn von der Sprachlosigkeit.
Kosinski macht den Pessimismus nicht zur letzten Gewissheit. Er lässt den Jungen in einer Szene durch einen deutschen Wehrmachtssoldaten retten, in einer anderen Szene durch die Rote Armee. Am Ende gibt er ihm die Stimme wieder.
Ist die Bestie in uns einzudämmen? Wahrscheinlich ist allein der Gedanke eine naive Utopie, denn Gewalt und Brutalität bestimmen nach wie vor unsere Welt und zeigen: Der Mensch ist nicht von seiner Destruktivität abzubringen. Für den polnisch-jüdischen Autor Kosinski hat diese Erkenntnis 1991 in den Selbstmord geführt.
Ein resonanzstarker Holocaust-Roman mit einem betonten Vorwort von Louis Begley, der uns Menschen zeigt, wer wir wirklich sind. Der Roman ist kein Spaziergang. Er ist ein Erdbeben für die Seele. Hier ist auf jeder Seite die Wirklichkeit das Böse.
Jerzy Kosinski, Der bemalte Vogel, Mit einem Vorwort von Louis Begley, Aus dem Amerikanischen von Herbert Roch, Die Originalausgabe erschien 1965 unter dem Titel The Painted Bird bei Houghton Mifflin, New York, Roman, 352 Seiten, Arche Literatur Verlag AG, Zürich-Hamburg 2011, EUR 19,90, SFR 28,90, EUA 20,50, ISBN-13: 978-3-7160- 2673-1
© Soraya Levin