Es ist ein Tag im Februar, der Tag an dem Olof Palme erschossen wird. Der sechs Jahre alte Ich-Erzähler fühlt sich wie „ein Koffer mit kleinen Rädern“, der von seinem Vater zum Fernsehladen der Stadt gezogen wird. Da stehen sie, Vater und Sohn, namenlos und blicken auf die Bilder des furchtbaren Attentats.
„Jetzt haben sie ihn“, „Jetzt haben sie ihn“. Die Worte des Vaters und der Schmerz über den Verlust Olof Palmes deuten auf einen Zusammenhang hin, den Bengtsson dem Leser gekonnt schuldig bleibt. Irgendetwas stimmt nicht, denn Olof Palmes Tod wirkt wie ein Sturm und zwingt den nicht sesshaften Vater und Sohn zum Weiterziehen. Sie sind permanent gejagt, werden verfolgt und tauchen unter. Wir wissen als Leser nicht die Hintergründe dieser flüchtenden Nomaden. Was wir als Leser sehen, ist eine Vater-Sohn-Beziehung, für die das wirkliche Leben keinen Raum gibt. Kein fester Job, kein Schulbesuch, keine Versichertenkarte, kein Name an der Tür. Was wir sehen, ist eine Welt aus gegenseitiger Liebe und eine tiefe innige Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn. Es sind Bilder eines Jungen, der alles für seinen Vater tut. Der nur den Vater spüren möchte, der dem Vater seine nächtlichen Albträume weg streichelt, der ein tiefes Urvertrauen hat und weiß, dass der Vater ihn nicht im Stich lässt. Es sind Bilder eines Vaters, der seinem Sohn seine negativen Erfahrungen mit der Außenwelt nahe bringt, der mit ihm in einer Silvesternacht eingekuschelt auf einem Dach das Feuerwerk beobachtet, der mit ihm durch die Wildnis streift, der ihm das Lesen und Schreiben beibringt. Ein Vater, der für ihn ein Buch klaut, der für seinen Sohn seinen pädophilen Arbeitgeber totschlägt. Dieser Punkt markiert eine Wendung, denn das wirkliche Leben hat die beiden auf verhängnisvolle Weise erwischt. Der intellektuell und besonnen wirkende Vater ist plötzlich aus der flüchtenden Welt herausgerissen und handelt kompromisslos und brutal. Auch der Junge begibt sich einen Schritt in die Normalität. Er entwickelt eine Sehnsucht nach der Wirklichkeit und möchte zur Schule gehen.
Eine diffuse undurchsichtige Spannung, die Bengtsson aufrecht hält. Vater und Sohn sind wieder auf der Flucht. Der Vater ergattert einen Gelegenheitsjob als Gärtner bei einer vereinsamten alten Frau. Das Haus der alten Dame ist für den Jungen mysteriös. Mit dem Blick hinter die Türen offenbart sich das wirkliche, das normale Leben.
Der wild wuchernde Garten gleicht dem vom Vater und Sohn geführten Leben, unübersichtlich und orientierungslos. Ein Irrgarten, in dem der Vater auf ein politisches Attentat zusteuert.
Bengtsson macht an dieser Stelle einen Zeitsprung. Der Junge ist jetzt 16 Jahre alt und lebt bei seiner Mutter. Er ist gefangen in der Normalität und verlassen vom Vater. Eine ausweglose Situation, die einen Sog von Konflikten nach sich zieht. Er verhält sich chaotisch, bricht Regeln und ist ständig auf der Flucht. Hier ist er wieder, der Irrgarten. Ein undurchsichtiger Weg in die Sackgasse, aus der der Junge einen letzten Fluchtversuch unternimmt.
Für den Leser bleiben die ungelösten Fragen über Fragen. Der intellektuelle Vater mit langen Haaren, antiautoritär, ein eventueller Spät-68er? Die Rückkehr in die Geburtsstadt des Jungen nach Kopenhagen, weil in Kopenhagen der Generationenkonflikt der 68er eher sanfte Züge getragen hat? Die Flucht als Ausdruck der Hilflosigkeit gegenüber der unberechenbaren Gesellschaft oder ein möglicher Hinweis auf ein begangenes Verbrechen? Ein Vater, der beim Tod des Vietnamkriegsgegner Olof Palme weint, ein Pazifist, dessen ungelöste Gesellschaftsfragen in Gewalt münden?
Bengtssons Figuren sind lebendig und gehaltvoll. Seine Worte vermitteln eine Stimmung, die das Spannungsverhältnis zwischen den Absichten des Vaters und der Liebe und Zuneigung zwischen Vater und Sohn spüren lässt. Er schafft es dabei, dass wir als Leser die Welt miterleben und dennoch nichts Genaues wissen. Diese diffusen Bilder machen die Geschichte so richtig stark.
Jonas T. Bengtsson, Wie keiner sonst, Roman, gebunden, Aus dem Dänischen von Frank Zuber, Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Et eventyr bei Rosinante & Co, Kopenhagen, 2013 by Kein & Aber AG Zürich - Berlin, 448 Seiten, 22.90 €, 29.90 CHF, ISBN 978-3-0369-5668-8
© Soraya Levin