Glaubt nicht, dass es ein idealer Ort für Kinder oder für Erwachsene ist. Das heruntergekommene multikulturelle Viertel Belleville von Paris. Hier leben die, die den Preis des Lebens knallhart bezahlen.
Es sind die zugewanderten Schwarzafrikaner, die Juden, die Araber, die Prostituierten und ihre ungebetenen Kinder, die Zuhälter sowie die Alten, die hier in diesem Elendsviertel leben. Hier ist kein Schritt leicht, hier geht keiner auf Moos, hier geht jeder auf felsigem Untergrund. An diesen Ort nimmt uns Romain Garys Ich-Erzähler mit. Ein Ort, wo viele in seiner Umgebung ihre Vergangenheit haben. Eine Vergangenheit, die der Ich-Erzähler noch nicht hat, denn er hat noch eine Zukunft.
Es ist der arabische Junge Mohammed, genannt Momo, der über die erzählt, an die niemand denkt, über die, die niemanden haben und über die, die niemand haben will. Er hat immerhin die jüdische Madame Rosa. Eine ehemalige Prostituierte, die die zurückgelassenen Kinder der Huren versorgt. Hier müssen sie ziemlich weit aufwärts gehen, um in den sechsten Stock zu kommen. Das Leben von Madame Rosa geht dabei abwärts.
Unter ihrer dicken Hautschicht liegen die nicht wegzuräumenden Reste ihres Lebens. Es sind die furchtbaren Erinnerungen an Auschwitz, die diese tiefen Schluchten der Angst und des Leidens bei ihr verursachen. Ihr einst blühendes junges Leben nun verwelkt durch die gewalttätige Vergangenheit und das harte Leben. Verwelken wird auch ihr Geist. Und der arabische Junge Momo? Wer denkt, es herrscht Spannung zwischen Juden und Arabern, der irrt sich gewaltig. Hier mögen sich nicht nur eine alte Frau und ein Junge. Hier geht es um den Menschen. Hier geht es um die bedingungslose Liebe. Hier haben beide nur sich, hier haben beide nur ihre Angst. Madame Rosa vor der Deportation und Momo vor dem nicht geliebt werden und vor dem Verlust von Madame Rosa. Denn ein Verlust heißt einsam sein. Manch einer genießt die Einsamkeit, hier ist man aber gewaltsam einsam. Ganz besonders die, die sich im Transit des Alters befinden.
Hier sehnt sich Momo nach elterlicher Wärme und Schutz. So wird Dr. Katz zum Wunschvater und das Wartezimmer zum Wohlfühlort. Als Madame Rosa immer kränker wird, erträumt sich Momo jede Nacht eine Löwenmutter, die ihn, ihr Junges, beschützt. Am Ende übernimmt er die Rolle der Löwin und beschützt Madame Rosa.
Madame Rosa, die die eigentliche Löwenmutter ist. Sie ist eine starke Frau, die die fremden Hurenkinder oft auch ohne Bezahlung umsorgt. Ganz besonders beschützt sie Momo vor seinem mörderischen Vater.
Dieser ganz besondere Junge Momo mit seiner manchmal sehr schnoddrigen Sprache. Der viel zu erwachsen ist, da er nie Kind sein durfte. Momo, der einen zum Schmunzeln, manchmal sogar zum Lachen bringt, der einen nachdenklich macht und dann - an einigen Stellen - möchten Tränen fließen. Doch dann kommt diese Stelle im Buch, wo sich Momo den blauen Clown aus einem Zirkus neben sich auf dem Bordstein erträumt. Beide lachen sich an und Momo ist glücklich. Und ich als Leserin? Ich kann dieses unsagbare Glück spüren.
In Romain Garys Roman wechseln nicht Ebbe und Flut. Hier ist immer Flut.
In dieser Flut spiegeln sich die Leben in den Körpern. Für die einen ein Leben auf engstem Raum vollgepackt mit der heimatlichen Tradition im Koffer, für die anderen ein sexueller Ausverkauf des Körpers.
Ob Prostituierte, Zuhälter oder Transvestit. Ob Jude oder Moslem. Ob Afrikaner oder Franzose. Es geht nicht um Fassaden. Hinter diesen Blendwerken sind in erster Linie Menschen. Es sind Frauen, Männer und Kinder, die sich einander gegebenenfalls beschützen und stützen.
Sogar Momos verkleideter Regenschirm Arthur wird zur Stütze.
Beim Lesen des Romans wird deutlich, dass man eigentlich eine Lizenz zum Leben und eine zum Altern erwerben müßte.
Es sind die vielen zerstreuten Erinnerungen, die noch mehr in die Anonymität und Einsamkeit führen.
Was ist aber das Erfolgsrezept für das Leben? Diese Frage stellt sich Seite um Seite und sie ist mit einem einzigen Begriff zu beantworten: LIEBE.
Eine Liebe, deren Trauer so stark ist, dass Momo die längst verblasste Madame Rosa noch ein letztes Mal erblühen und duften lässt.
Und Momo? Den möchte man am liebsten adoptieren, wenn er nicht schon eine neue Familie gefunden hätte.
Am besten man nimmt dieses Buch zur Hand, setzt sich hin und liest es, denn es ist wie kein anderes.
Romain Gary (Émile Anar), Du hast das Leben vor dir, Roman, die Originalausgabe ist 1975 unter dem Pseudonym und Titel Émile Anar, La vie soi bei Mercure de France erschienen, 2017 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich, ISBN 978-3-85869-761d-4, 4. Auflage 2021
© Soraya Levin