Nach "Letzte Haut" nun "Letztes Schweigen". Der neue Roman von Volker Harry Altwasser taucht ab in die zweite deutsche Diktatur, die DDR. Es die Geschichte einer Kindheit, die Geschichte eines Jungen, der ohne Vater aufwächst. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden, aber auch eine Geschichte von Wandlungen, von Aufbrüchen, Hoffnungen, Ängsten, von Träumen und Rastlosigkeit.
Volkers Mutter ist alleinerziehend. Von Volkers Vater, einem Säufer und Schläger, hat sie sich getrennt. Jetzt sitzt sie mit ihrem Sohn in einem Plattenbau und träumt von einem bürgerlichen Leben mit einem Mann an ihrer Seite. Volker vergisst sie dabei, obwohl er sich alle Mühe gibt, ihr zu gefallen. Er schleppt ihr Bier heran, paukt in der Schule für gute Noten, hat keine Widersprüche. Doch alles hilft nichts, seine Sehnsucht nach einem Stück der Mutterliebe erhält immer wieder einen Dämpfer. Da fühlt sie sich eher zur Großmutter hingezogen, adoptiert die Tochter ihrer im Stasiknast sitzenden Schwester und immer aufs Neue saufende "Stiefväter" und scheiternde Beziehungen. Und jedes Mal ein Stück herausgerissen sein. Herausgerissen aus dem Freundeskreis, Herausgerissen aus dem Umfeld. Und jedes Mal ein Stück abhanden kommende Heimat. Todunglücklich zieht Volker sich immer mehr in sich zurück. Er baut sich eine Fantasiewelt auf, in der alles Augenmerk auf ihn gerichtet ist. Sein stilles Leiden legt mit der Abordnung in die Pionierrepublik eine Ruhepause ein. Für kurze Zeit schwingt er in der Gemeinschaft der Thälmannpioniere mit, erfährt er Zustimmung und stößt seine Stimme auf Widerhall. Doch zu Hause wartet die Ernüchterung. Von seinem in den Westen ausgereisten Onkel fühlt er sich im Stich gelassen, die Mutter hat wieder einen Neuen, einen alten Grenzer. Es kommt zum Zerwürfnis mit der Mutter und zum Aufbruch in ein neues Leben.
Altwassers Roman ist nicht nur eine Erzählung über eine einsame Kindheit in der DDR und den äußerst anstrengenden Weg zum Erwachsenwerden. Mit großer erzählerischer Tiefe spiegeln die Charaktere die gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Was passiert, wenn man aus dem drückenden Alltag, aus der trostlosen Umgebung der Wohnblocks fliehen möchte? Viele retten sich - wie auch Volkers Mutter - in den Alkohol oder in die Welt der Bücher. Und manch einer - wie der Onkel - wagt sogar die Flucht aus dem Land. Altwassers Charaktere klammern sich auf der Suche nach Liebe an Träume und Hoffnungen, die dann immer wieder in der Ernüchterung enden. Eine Endstation, an der für Volker sein innerlicher Rückzug beginnt und sein sprachloses Leiden seinen Anfang nimmt. Ein verplombtes Leiden, das sich kurzfristig durch gemeinschaftliche Anteilnahme, Wahrnehmung und Verbundenheit der Thälmannpioniere in der Pionierrepublik öffnet. Es ist aber nur ein Aufblitzen des anderen Ichs, des zweiten Ichs namens Jack. Für kurze Zeit trägt Jack die Kraft des Protestes mit sich, protestiert mit der Bürgerbewegung gegen das System, rebelliert gegen die Mutter. Altwassers Charaktere bleiben letztlich Gefangene ihres Mantras der Hoffnung und ihres Schweigens. Auch die Wendezeit bringt nicht die innere Freiheit.
Wie auch im Roman "Letzte Haut" ist Altwasser selbst wieder Teil der Erzählung. Robert Rösch ist Volker und Volker ist Robert Rösch. Auch taucht der Schmelz aus "Letzte Haut" wieder auf. Ein geschickter Rückgriff, der den schmalen Graben zwischen der ersten und der zweiten deutschen Diktatur knüpft. Ein Rückgriff, der zeigt, dass die Befreiung aus dem bisherigen Leben ein immer währender Versuch bleibt.
Volker Harry Altwasser, Letztes Schweigen, Ein Abwrackroman, 256 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 2010 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, ISBN 978-3-88221-681-3, EURO 19,90 / CHF 35,90
© Soraya Levin