Das Leben ist kein Text, an dem man durch eine Fehlerkorrektur mitunter Wunder vollbringt. Für die einen ist es die Kunst, in der gesellschaftlichen Spur zu bleiben oder gegenzusteuern, wenn sie sich neben der Spur wiederfinden. Diejenigen, die die Kurven des Lebens nicht bewältigen, erleiden einen menschlichen oder sozialen Totalschaden und wieder andere landen auf dem Abstellgleis der Demenz. Es gibt kein Patentrezept, um wieder einen Gang zurückzuschalten und mit einem Tempowechsel einzulenken, um die richtige Ausfahrt zu nehmen. Der amerikanische Autor Jonathan Franzen zeigt dieses in seinem Roman Die Korrekturen am Beispiel der Familie Lambert deutlich auf.
Franzens Familie steht für unzählige Familien und ihre problematischen Beziehungsmuster, die über die alltäglichen Konflikte bis zu den unausgesprochenen Worten und Wünschen reichen, die jeder in sich trägt. Es ist die Suche nach Harmonie und einer Idylle. Eine Suche nach dem perfekten Normalen. Es ist eine Fahndung nach sich selbst und der universalen Frage wer bin ich? Ein Ich, das oft an der Oberfläche bleibt. Ein Ich, das stetig inmitten sich wandelnder soziokultureller gesellschaftlicher Werte und Normen wühlt, das sich eine immerwährende Anpassung abverlangt, die einer Korrektur des eigenen Lebensentwurfes oder Bruchteilen davon entspricht. Wie der Autor zeigt, sind es die kleinen und großen Reparaturen im Leben, die wir auf den Karren spannen, den wir mit enormer Anstrengung mit Geduld und Kraft ziehen. Und wenn wir Glück haben, gelingt uns die eine oder andere Korrektur wie im Roman.
Franzen zeigt die Eltern Enid und Alfred und die mittlerweile erwachsenen drei Kinder Gary, Chip und Denise auf, die zwischen Wünschen und der Suche nach sich selbst, eingezwängt von idealisierten Vorstellungen, ihrem eigenen Scheitern und den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterworfen sind. Sie sind es, die inmitten des familiären und sozialen Spannungsprozesses stehen.
Jonathan Franzen betont diesen Aspekt in seinem Roman, indem er die Familie in einer Kleinstadt im mittleren Wesen der USA ansiedelt. In der fiktiven Stadt St. Jude kennt man sich. Ein gähnender Ort, wo die Werte über Jahre erprobt sind. Wo sich die Religion in die nächtlichen Betten und das Familienleben schleicht. Ein Ort, wo jeder jeden beobachtet und die konservative Grundhaltung keine liberalen Spielräume zulässt. Franzen verdeutlicht dieses anhand der Mutter Enid Lambert. Ihr traditionelles Familienbild ist von Tabus geprägt. Welten trennen sie von ihren Kindern, insbesondere von ihrer Tochter Denise, die ein ungezügeltes selbstbestimmtes Leben führt. Über Jahrzehnte gibt sie sich der Illusion einer harmonischen Familie hin, die gemeinsame Werte und Normen befolgt. Franzen lässt Enid mit abwärtsgehender Lebenszeit einen Entwicklungsprozess durchlaufen, in dem sie ihre engmaschige Lebenseinstellung korrigiert und sich der gesellschaftlichen und familiären Realität anpasst. Der Autor versüßt Enid diesen schweren Gang mit Stimmungsaufhellern, die sie auf einer Schiffsreise vom Arzt verordnet bekommt. Das unverkäufliche Aslan ist ein Medikament, das den eigenen Lebenspessimismus in einen Wohlfühlmoment korrigiert. Ob der Autor das Medikament mit Absicht Aslan genannt hat, da es übersetzt der Löwe heißt? Wie dem auch sei. Ein Löwe ist in der Lage, Stärke zu zeigen. Es liegt nahe, dass Franzens Aslan stellvertretend für die Medikamente und Drogen steht, die korrigierend in den körperlichen und vor allem seelischen Schmerz von Ängsten und Stress des Menschen eingreifen. Sie sind stark wie ein Löwe und bewirken Wunder. Hier ist eine Gesellschaftskritik zu erkennen, denn oft sind es die sozialen Probleme, die einer Korrektur bedürfen und denen mit Hilfe von Medikamenten begegnet wird. Ebenfalls ist der Löwe nicht die Ausnahme, sondern wird zum Alltag. Franzen verknüpft diese Medikation der Moderne im Roman mit der Pharmaindustrie, die ihr neues Medikament an Parkinsonpatienten wie Alfred testet und versucht, eine Korrektur des geistigen Zerfalls zu erreichen. An diesem Punkt zeigt der Autor meiner Meinung nach auf, dass zwischen dem Anspruch der Industrie sowie der Familie einerseits und dem Patienten andererseits oftmals tiefe Täler liegen. Hier wird ein ethischer gesellschaftlicher Aspekt sichtbar, denn Alfred schreit und verlangt, aus der Testpatientensituation befreit zu werden. Doch er ist ein vom Leben Ausgezählter, der in dem Hospitalgefängnis bis zum Ende der Testphase zwangsweise verharrt. Ein Ausgezählter, dessen einzige Lebenskorrektur die Einsicht zu einer anderen Erziehungsform bei seiner Tochter Denise war.
Franzen gelingt es erstklassig, diese ernsten Passagen mit Witz zu hinterlegen, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Auf diese Art werden die Konflikte zwischen den eigenen Wünschen und der Realität, die Franzen anhand jedes Familienmitgliedes verdeutlicht, greifbarer.
Wie Enid suchen Alfred und die Kinder ebenfalls nach ihrer Identität. Die Entwicklung, die die Familienmitglieder durchlaufen, ist die wie bei einer sich stetig verändernden Gesellschaft. Die Frage steht im Raum, wie der einzelne durch diesen Gesellschaftsstrom schwimmt.
Das Alter nagt an Enid und Alfred und was bleibt, wenn der Verfall wie bei Alfred geistig unaufhaltsam ist? Wenn ein sich zeitlebens kontrollierter und gebildeter Mensch wie Franzen ihn darstellt, die Kontrolle über seinen Körper verliert und zwischen der Realität und der Scheinwelt die Grenzen sich schier auflösen? Zurück bleibt die innere Einsamkeit, mit der Franzen Alfred von Beginn an ausstattet. Der Hinweis, dass er Arthur Schopenhauer liest, verdeutlicht diesen Aspekt. Alfred und Schopenhauer, zwei pessimistische Menschen, die in die Einsamkeit fliehen. Zwei, die die Begierde verachten und den Sexualakt als menschlichen Instinkt betrachten. Daher ist Alfred nicht in der Lage, für Enid Liebe zu empfinden und ihr die Liebe zu geben, nach der sie sehnsuchtsvoll und schweigend verlangt. Sein Rückzug führt ihn nach innen in ein Gefängnis, indem er zeit seines Lebens bleibt. Verstärkend wirkt sein Umgang mit der gesellschaftlichen Realität, der er sich oftmals stur verweigert. Selbst beim letzten Atemzug.
Gary, der älteste Sohn, versucht die Korrektur des Lebens des Vaters zu sein. Dessen Pessimismus stellt er eine geschauspielerte oberflächliche Lebensfreude entgegen. Er passt sich an die gesellschaftlichen Normen an und vergleicht sich mit seinen Geschwistern. Nach außen ist er ein bombiger Vater und Ehemann, ein hinreißender Bruder und Sohn und tough im Job. Nach innen bleiben Schmerzen, die er mit Alkohol versucht, zu lindern. Das Gefühl im Gepäck für die Familie nicht genug zu sein, heizt das Bedürfnis nach Anerkennung mit Hilfe materieller Gegenstände an. Dieses negative Selbstbild, das Franzen mit Hilfe von Gary zeichnet, deutet gesellschaftlich darauf hin, dass der Konsum der letzte Trumpf ist, der ausgespielt wird, wenn das Selbstwertgefühl im Keller ist. Ein Gefühl, das nach dem Perfekten strebt und misstrauisch die Menschen beäugt, inwiefern sie der eigenen Person gegenüber ablehnend wirken. Ein Gefühl, das wie bei Gary dargestellt, zu dauerhaftem Stress und zu Depressionen führt.
Garys jüngerer Bruder Chip ist der Gegenspieler zum Konsum und Kapitalismus. Ein geringes Selbstwertgefühl hat er mit seinem Bruder gemein. Er sieht sich ebenfalls nicht wahrgenommen und wertgeschätzt, leidet darunter und hat sich emotional von der Familie distanziert. Seine Lebenskrise ist eine Dauerkrise von brüchigen Beziehungen, vom Scheitern im Job bis hin zu der Sehnsucht einer unerfüllten Schriftstellerkarriere.
Seine Schwester Denise wirkt im Roman trotz der innerfamiliären Konflikte wie ein Bindeglied zwischen den Eltern und ihren Geschwistern. Ihr Selbstwertgefühl speist sich aus ihrem hartnäckigen selbstständigen Entscheidungsweg, den sie sexuell und beruflich als Köchin und Restaurantbesitzerin folgt. Sie ist ebenfalls auf der Suche nach ihrer Identität. Franzen weist ihr die Rolle einer emotional widersprüchlichen Frau zu, die erst in der Auseinandersetzung mit ihrem Liebesleben entdeckt, dass sie bisexuell ist. Die Unsicherheiten, die sich mit der Entdeckung emotional ergeben, werden im Roman sichtbar herausgearbeitet. Es sind Fragen der Selbstentdeckung und der Selbstakzeptanz, die der Autor mit der Person Denise aufgreift.
Die Korrekturen ist ein vielschichtiger Roman, der gesellschaftliche und politische Themen unterhaltsam miteinander verknüpft. Die langen Sätze schrecken nicht ab, da sie teilweise mit Witz, Ironie und Metaphern sowie erstklassigen Dialogen geschrieben sind. Franzen schafft es durch seinen exquisiten Schreibstil und die komplexe Erzählweise, die Handlung am Konzept der Familie Lambert detailliert darzustellen. Die Bewältigungsversuche des Menschen in Veränderungsprozessen werden mit diesem Schreibstil sichtbar.
Jonathan Franzen, Die Korrekturen, Roman, aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell, 14. Auflage 2021, gebunden, Hamburg Rowohlt Buchverlag GmbH, ISBN: 978-3-498-02086-6, 784 Seiten, € 28,00.
© Soraya Levin