Er verlässt in den 1950er Jahren seine englische Heimat und zieht in das rastlose Hongkong. Unser Ich-Erzähler, der Brite Robert Lomax, der in Asien nicht nur seine Leidenschaft für die Malerei entdeckt, sondern ebenfalls für seine reizvolle und bildhübsche Zufallsbekanntschaft Suzie Wong. Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte, die nur einen Haken hat. Das verruchte Stundenhotel Nam Kok im Rotlichtviertel Wan Chai, wo Robert Lomax sich langfristig kostengünstig einquartiert, ist Suzie Wongs Arbeitsplatz. In der Bar des Nam Kok, wo sich die Matrosen betrinken und wo ihre nach Sex dürstenden Blicke auf die überwiegend willigen Frauen treffen, fliegt ihre Tarnung einer ehrenwerten und unantastbaren Jungfrau auf.
Die Prostituierten, die ihren Körper für eine Stunde oder die ganze Nacht gegen Geld tauschen, betrachten sich nicht als Ware. Sie gaukeln sich ihre Autonomie vor, indem sie sich kritisch in der Wahl der draufgängerischen oder zugeknöpften Kerle geben. Hier zielt der Autor auf die sexuelle Selbstbestimmung ab, die jedoch nicht gegeben ist, da die Frauen ums nackte Überleben kämpfen, das sie auf eine kaufbare Beute reduziert. Eine wahre Fundgrube von Sexarbeiterinnen, die einen taufrisch und ohne Falten und die anderen bereits sichtbar durch das Alter verwundet. Ein Ort, an dem die Kerle sie gebrauchen, ihnen Gewalt antun, sie demütigen und unterdrücken und ihnen ab und an das Blaue vom Himmel versprechen und in dem Moment von Liebe und einem Zusammenleben schwafeln.
Der Autor bedient mit der Darstellung der Frauen die klassischen Stereotype der asiatischen Exotin, die apart ist und deren spezielle Praktiken die Vorlieben der Freier bedienen.
Es sind aber Frauen genauso wie die der britischen Gesellschaft, die von der Romantik träumen. Die sich nach wahrer Liebe, der Ehe und nach Respekt sehnen. Die sich der gesellschaftlichen Schranken bewusst sind und die wie Suzie Wong ihre Rolle tauschen, um sich als Jungfrau wahrzunehmen. Ein Identitätswechsel, der ein Balsam für die geschundene Seele ist, auf die die unmoralische Keule des Sexes außerhalb der Ehe einprügelt.
In dieser Scheinwelt, wo aus dem sich prostituierenden Weibsbild die ihren Gatten begleitende Eva mutiert, ist kein Platz für die Realität. Sie bleiben in dieser Gesellschaft immer Frauen zweiter Klasse, denen sich Männer bedienen, die nach Sex und körperlicher Nähe gieren. Diese zweite Garnitur der Frauen im Nam Kok genießt in der Gesellschaft ein schäbiges Ansehen, das sie versuchen, mit ihrer Abgrenzung zu den Straßenprostituierten aufzuwerten.
Mason zeigt nicht nur die ökonomische Kluft zwischen diesen armen Mädchen und der britischen Kolonialgesellschaft auf, die in den vornehmen Vierteln des Peak wohnen. Es ist die soziale Kluft, die er vollgestopft mit Vorurteilen, Diskriminierungen und widersprüchlichen Moralvorstellungen atmosphärisch einfängt. Immer wieder taucht sie im Roman auf, die Frage nach der Überwindung der Armut und der gesellschaftlichen Akzeptanz.
Während Suzie Wong versucht, sich aus der Abhängigkeit der Prostitution zu befreien, rutscht sie mit der Liebesbeziehung in die nächste Unfreiheit. In ihrer Beziehung zu Robert wechselt sie von der Ware zum Besitz. Mason stellt sie dagegen eher als eine hinreißende malerische Kurtisane dar, die sich ihrem Robert als geistige Inspirationsquelle aufopfernd hingibt und die, trotz ihres Analphabetismus, Interesse an weltlichen Fragen zeigt.
Richard Mason gelingt es vortrefflich, die Stimmung und die Gefühle seiner Protagonisten Robert und Suzie einzufangen.
Es ist die Liebe, die sich atmosphärisch über den Roman spannt, mit der man mitfiebert, mit der man hofft, dass es ein Happy End gibt. Es ist dieser Touch eines Märchens, dieses Wachküssen aus der Armut und Prostitution von Suzie Wong durch den Prinzen Robert. Es ist dieser Gegensatz von der mit Privilegien versehenen Kolonialgesellschaft und den Verlierern, die keine Möglichkeit auf Bildung und medizinische Versorgung haben, diese Spannung, wo Krankheiten ein Überlebensspielball sind. Es sind die exotischen Klischees und es sind die immerwährenden Fragen der Menschheit »wer bin ich?« und »wer möchte ich sein?«, die Mason unterschwellig thematisiert.
Ein emotional bewegender und teilweise melodramatischer Roman, der den Leser Seite für Seite unterhält und mit seiner bildhaften Schilderung festhält.
Richard Mason, Suzie Wong, Aus dem Englischen von Edmund Th. Kauer, Unionsverlag 2011 Zürich, UT 536, broschiert, 448 Seiten, € 12.90, FR 17.90, € [A] 13.30, ISBN 978-3-293-20536-9
© Soraya Levin