Der Guggolz Verlag hat mit der Wiederauflage des Reiseberichtes Deutscher Herbst von Stig Dagerman eine literarische Rarität herausgebracht. Bei dem Titel Deutscher Herbst fällt einem zunächst die RAF ein. Doch wir sind nicht im Jahr 1977.
Wir begleiten den schwedischen Journalisten und Autoren Stig Dagerman im Herbst 1946 durch das zerstörte Deutschland. Für Stig Dagerman ist es eine Reise ins Unbekannte. Im Gepäck die Fragen wie sieht es mit dem Bewusstsein von Schuld bei den Deutschen aus? Gibt es eine moralische Verantwortung? Hat die Demokratie eine Chance in diesem brüchigen Land?
Der Autor lenkt den Blick weg von der Gruppe der Deutschen. Er betrachtet die persönliche Lebenslage des einzelnen Menschen, um auf diese Art die richtigen Schlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen.
In dreizehn Geschichten erzählt er von den Menschen und was in ihnen vorgeht, die ihm von Hamburg bis Berlin begegnen. Die inmitten der Ruinen, die ein furchtbares Mahnmal, zumindest für den Außenstehenden sind, um ihr Überleben kämpfen. Die in den Kellerlöchern der ehemaligen Häuserfronten umgeben von Wasser, Feuchtigkeit und Kälte hausen und ihre Kinder statt zur Schule, die es in diesem Chaos nicht mehr gibt, zum Klauen schicken. Mit jeder Kartoffelschale trotzen sie dem nicht endenden Hunger.
Wie formt man aber Menschen zu Demokraten, wenn das Leben nach Essen und nicht nach Demokratie verlangt, die in diesem Elend keine Bedeutung hat. Wenn sich der Hunger wie eine undurchdringliche Wand aufbaut und den Menschen keinen Platz für einen inneren politischen Neuanfang lässt.
Die eigene Problemlage ist abgetrennt von der gesellschaftlichen Erwartung an das Neue, an den Wiederaufbau und einem demokratischen Gebilde, dem der Einzelne mit Desinteresse begegnet. Die Frage ist, was hier lebenswert ist, außer am Leben zu bleiben? Der Instinkt überwiegt. Moralisch verwerfliche Wege stützen das Überleben und bewahren vor dem Niedergang. Wer Materialien zu tauschen hat, vertreibt sie auf dem Schwarzmarkt und das weibliche Geschlecht küsst alliierte Soldaten für Schokolade, Lippenstift und Zigaretten. Ist es Liebe oder Prostitution, wie es der Autor von einigen hört.
Ein hoffnungsloser Stimmungsschleier liegt über dem Land. Für viele ohne einen sichtbaren Ausweg. Wobei die Hoffnungslosigkeit unterschiedliche Gesichter hat. Da ist die frostige Haltung gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus den Ostgebieten. Da sitzen die ehemals aus dem deutschen Grenzland Evakuierten bei ihrer Rückkehr mit mangelnder Essens- und Gesundheitsversorgung wie festgeschraubt in den Zügen. Ihr Kartenhaus vom »Heim ins Reich« bricht zusammen. Mit gestreckten Waffen diejenigen, die von Bahnhof zu Bahnhof reisen und ihr Déjà-vu in den Ruinenstädten erleben. Kraftlos und mit begrabener Hoffnung sind die, die Auschwitz überlebt haben.
Die Menschen sind abgestumpft gegenüber ihrer Umwelt und unfähig für Empathie. Wo ist die moralische Pflicht sich als Erbe Hitler-Deutschlands der Verantwortung zu stellen? Das eigene Leiden überwuchert die Schuld sagt der Autor. Auf der anderen Seite ist der Rucksack ohne Schuld beladen, weil selbst SS-Männer sich keiner Schuld bewusst sind. Selbst die auf der Anklagebank in Nürnberg verhandelten Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Ärzte rauschen mit mangelndem Interesse vorbei.
Probleme bilden die extremen Gegensätze. Nazi-Juristen entnazifizieren in den Spruchkammern, obwohl sie Teil der verbrecherischen Organisation waren. Während die einen in Bunkern und Kellern hausen, leben die anderen in ihren erhaltenen bürgerlichen Häusern im relativen Wohlstand. Während die einen im KZ gequält und ermordet worden sind, behaupten die Mitläufer sie wären haarscharf an der Inhaftierung vorbei gerutscht. Die Täter kaufen sich entlastende Persilscheine, die sie in den Sattel als Helfer der Opfer hieven.
Die ehemaligen Nazis richten sich wieder ein. Und die SPD öffnet für sie die Türen, indem sie die Ostgebiete zurückfordert.
»In Deutschland kann man nicht bleiben, wenn man jung ist.«, sagt der 16-jährige Gerhard zu Dagerman. Dieser Mangel an Zuversicht bringt den Optimismus zum Erliegen. Dagerman schreibt an seine Familie, dass ihn diese Reise verdeutlicht hat, dass sein Zuhause das Paradies ist.
Es ist eine schwere von Schatten überlagerte Reise, die Stig Dagerman von Oktober 1946 bis Dezember 1946 durch Deutschland unternommen hat. Eine Reise begleitet von Todesängsten, Trauer, Einsamkeit und Mitleid. Inmitten dieses von Schatten überzogenen und innerlich zerrissenen Landes zersetzt die Scham die Freude an der Sichtung einer Buchbesprechung zu seinem Roman.
Diese Spurensuche im Deutschland der Nachkriegszeit ist eine Belastung für Dagerman. Die auf die dreizehn deutschen Orte und Geschichten folgenden Briefe in die Heimat Schweden verdeutlichen, wie schwer das Leid der Bevölkerung ihn in Mitleidenschaft zieht. Dagermans Reisebericht klingt wie ein mahnender Appell über dieses sinnlose Martyrium des Krieges nach.
Wenn der Autor feststellt, dass die Schuld dem eigenen Leiden zum Opfer fällt, greift es meiner Meinung nach zu kurz. Der Punkt ist, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit lange vor dem Krieg im Land stattfanden. Wo waren die Klagelieder oder der breite Widerstand seitens der Bevölkerung? Jetzt ist man selbst vor dem Abgrund gestrandet und schmählich als Mensch gescheitert. Diese schwer erträgliche Bodenlosigkeit, die in einem Rundumschlag ausholt, schafft es nicht an eine moralische menschliche Verpflichtung zu erinnern, wenn diese bereits im Zustand des nationalsozialistischen Optimismus zum Erliegen gekommen ist.
Dagermans Reise lässt eine elementare gesellschaftliche Frage im Raum stehen: Ist das Leid des Täters zu beklagen?
Deutscher Herbst zeigt auf die Gesichter eines zerstörten Nachkriegsdeutschlands ohne Minimierung der Schuld. Die Frage nach der Tragbarkeit der Demokratie bleibt verstörend, wenn Hunger sie entbehrlich macht und sie zum Wackeln bringt. Die Brüchigkeit der Buchstaben im Titel verdeutlichen die gebrechliche Beschaffenheit unserer heutigen Ordnung.
Stig Dagerman, Deutscher Herbst, aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berg, Dritte Auflage Berlin 2022, Guggolz Verlag, Berlin, 190 Seiten, € 22 [D] | € 22,70 [A], gebunden, fadengeheftet und mit Lesebändchen 978-3-945370-31-5
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