Suzanna Jansen erzählt nicht nur eine Geschichte über die soziale Armut in den Niederlanden des 19. Jahrhunderts. Nein, es ist ihre eigene Familiengeschichte, die die vererbte Armut über fünf Generationen hinweg eingebettet in die Entwicklung der Sozialgeschichte der Niederlande aufzeigt.
Das Paradies der Armen, das ist die andere Welt. Nein, keine fröhliche und glückliche Idylle, sondern ein von Scham begleiteter Ort.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gründet General Johannes von den Bosch die Gesellschaft für Wohltätigkeit, die sich zum Ziel setzt, das große Armutsproblem in den Niederlanden zu lösen. Zum Feldversuch und Hort der Loslösung von der Armut wird die Zwangskolonie Veenhuizen. Es ist das sogenannte „Sibirien der Niederlande“, denn außer endloser Weite und Moor gibt es hier nichts. Gerade richtig für die Armen, die sich auf ihre Umerziehung konzentrieren sollen. Sozialdisziplinierung ist das große Armutsbekämpfungswort. Ein strenges Reglement und Arbeitsdrill sind die Zutaten, die aus den gesellschaftlich Ausgegrenzten wieder tragfähige Mitglieder der Gesellschaft machen sollen. Die soziale Frage reduziert sich in Veenhuizen auf den Einzelnen, denn Armut gilt als selbstverschuldet. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen und negative Rahmenbedingungen wie Kriege, die Industrialisierung, die Landflucht, die prekären Löhne, die mangelnde Bildung, die vielen zu versorgenden Kinder werden nicht als Armutsverursacher gesehen. Die Bettlerkolonie Veenhuizen als politische Maßnahme der Armenpflege gestaltet sich jedoch nicht als Schubkraft aus dieser Armut. Sie entpuppt sich vielmehr als eine Drehtür. Statt die Armut zu bekämpfen, produziert sie Pflegefälle der Armut. Wer in der Kolonie lebt, ist fremdbestimmt. Hier wird nicht selbst gedacht. Hier braucht sich keiner selbst versorgen. Hier gibt es ein Kommando, dem man sich unterzuordnen hat. Hier gibt es Privilegien für die einen und eine knallharte soziale Hierarchie. Die strukturelle Unmündigkeit verfestigt so die Armut der hier Gestrandeten. Die hier Gestrandeten, das sind ehemalige Soldaten, Bettler, Landstreicher, durch ihre Armut kriminalisierte Menschen. Schlicht die Ränder der Gesellschaft.
Zu diesen Rändern gehören auch die Vorfahren von Suzanna Jansen.
Der erste Vorfahr, der mit der Armenfürsorge in Kontakt tritt, ist Tobias Braxhoofden. Einst Elitesoldat von Napoleon Bonaparte, später Invalide und zwangsverpflichtet als Aufsichtsperson in der Armenkolonie.
Auch die folgende Generation wird ihr Zuhause in der Anstalt finden. Tobias Tochter Cato Braxhoofden heiratet im Sommer 1835 in die katholische Familie Gijben ein. Ihr Mann Teunis steht in der Armutshierarchie weit unter den Braxhoofdens. Das junge Paar verlässt die Kolonie. Doch der Versuch, gesellschaftlich Fuß zu fassen, misslingt. Existentielle Nöte zwingen sie zu einer Rückkehr in die Kolonie. Auf der sozialen Armutsleiter stehen sie jetzt ganz unten, denn die in der Bettlerkolonie errungenen Privilegien von einst sind verfallen.
Teunis verstirbt und es vergehen insgesamt 33 Jahre Anstaltsleben bis Cato den familiären Schandfleck Veenhuizen hinter sich lässt. Mit ihren Kindern zieht sie in den Amsterdamer Jordaan. Es gelingt ihr jedoch nicht Veenhuizen abzuschütteln. Der Mann ihrer jüngsten Tochter Helena wird wegen Landstreicherei in die Strafkolonie verfrachtet. Da ist er jetzt wieder, der familiäre Schandfleck.
Während die Männer ihre Armut im Alkohol ertränken und die Frauen ins Kloster gehen, verändert sich die Gemeinwesenarbeit. Der Schwerpunkt liegt jetzt auf der Begleitung und Überwachung der Armen durch die Fürsorge und auf der Schaffung von positiv besetzten Sozialräumen. Auch Helenas Tochter Roza und ihr alkoholabhängiger Mann Wouter profitieren von den Veränderungen des Sozialstaates. Sie siedeln um in das Gartendorf.
Eine Flucht aus der Armut ist jedoch nicht allein durch die Schranken der sozialen Räume erschwert, sondern ebenfalls durch die Bildungsschranken. Eine Bildung, zu der die Kinder der Armen keinen Zugang haben, da sie früh zum Familieneinkommen beitragen müssen. Rozas Tochter Lenie ist die erste aus der Familie, die eine weiterführende Schule besucht. Die Familie verzichtet nicht nur auf Lenies Einkommen. Sie verlässt, um nah an der Schule zu sein, das Gartendorf und zieht nach Floradorp, dem sogenannten „Dschungel“ der Arbeitslosen, Kriminellen, der Asozialen. „Ob aus Floradorp oder Veenhuizen, im Grunde genommen machte es keinen Unterschied: Wer von dort kam, war verurteilt.“. Doch Verurteilte wollen sie nicht sein und so verschweigen sie ihren Wohnort.
Der Krieg zwingt die Armen, darunter auch Wouter und seinen Sohn Koos, zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. Denn ab 1940 heißt es „Wer sich nicht freiwillig meldete, bekam vom Fürsorgeamt keine Unterstützung mehr.“. Dank der finanziellen Einkünfte gelingt es der Familie das stigmatisierte Quartier zu verlassen. Nur Koos, der bleibt tot zurück in Deutschland.
Die Mutter der Autorin, Elisabeth, schüttelt durch ihre Ehe mit Chris Jansen ihre Armut ab. Eine Armut, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Eine Armut, die Menschen zu unmündigen Pflegefällen werden lässt. Eine Armut, die kriminalisiert und gesellschaftliche Schranken schafft. Eine Armut, die als persönliche Schande empfunden wird, obwohl sie ein Versagen des Gemeinwesens ist.
Suzanna Jansens Paradies der Armen ist eine lesenswerte sozialgeschichtliche Familienchronik, die den familiären Verarmungsprozess im Sog der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik beleuchtet. Sie verdeutlicht, dass fehlinterpretierte Kausalitäten und fürsorgliche Regulative die Lebenschancen der sozial Ausgegrenzten verringern und deren Armut verfestigen.
Das Paradies der Armen. Eine Familiengeschichte, Suzanna Jansen, Übersetzung von Andrea Prins. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Het pauperparadijs“ zuerst bei Uitgeverij Balans, Amsterdam, Deutschsprachige Ausgabe: Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG, 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) Darmstadt, 264 Seiten, mit schwarz-weiß Illustrationen, € 24,95, ISBN 978-3-8062-3297-4
© Soraya Levin