Nicht jeder kennt die großen Fußballstars wie den ungarischen Fußballer István Sztani der Frankfurter Eintracht der 1950er Jahre persönlich. Er schon. Der Junge. Ein ganz normales Kind der Nachkriegszeit. Bis auf eins. Er ist Jude und das ist kein Selbstverständnis.
Im Krankenhaus ist der ungarische Fußballprofi sein Bettnachbar. Ausgerechnet ein Ungar. Die Erzählungen des Vaters sitzen tief. Haben nicht die Pfeilkreuzler die ungarischen Juden in den Tod getrieben. Dieser Ungar entpuppt sich jedoch als Judenfreund. Ein positives Erlebnis für den Jungen, der versucht seine jüdische Identität zu verbergen. Im Nachkriegsdeutschland kann man sich nicht vorstellen, dass es noch Juden gibt. Im Krankenhaus wird der verstorbene Vater nach christlichem Ritual gebettet. Im Nachkriegsdeutschland sind Juden nicht willkommen. Ihr Anblick und ihr Dasein verhindert das Ziehen eines radikalen Schlussstrichs.
Eltern von Klassenkameraden fragen ihn vorwurfsvoll warum sie nicht emigriert sind. Wohin sollten sie? Der Vater vom KZ schwer krank und traumatisiert kann seinen Alltag kaum bewältigen. Oft sitzt er einfach nur da und weint. Wie auch die Mutter und Verwandte wenn sie in ihren Erinnerungen versinken. Der Krieg ist vorbei aber nicht das Leiden. Die ehemaligen braunen Juristen führen ihr Herrenmenschenverhalten im Entschädigungsprozess gegen den Vater fort. Es sind entwürdigende Momente, die den von der Vergangenheit getriebenen Vater im Gerichtssaal wieder zum Opfer machen.
Jahre später in den 1960er Jahren setzt sich dieses Kontinuum der braunen Demütigungen im Auschwitzprozess fort. Der Junge, der mittlerweile Volontär bei der Frankfurter Rundschau ist, wird Zeuge des verunglimpfenden Umgangs mit den jüdischen Opfern seitens Hitlers ehemaliger Juristen. Der Junge lernt den Mann, der den Mut hat, einige der Auschwitztäter vor Gericht zu bringen, persönlich kennen. Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsanwalt und Jude, der es wagt den deutschen Täter anzuklagen. Für diese „Dreistigkeit“ wird er mit Beschimpfungen und Morddrohungen überhäuft. Ein schöner Neuanfang ist das im Nachkriegsdeutschland. Ein Neuanfang, der für die Familie im ausgebombten jüdischen Krankenhaus beginnt. Die gemeinschaftliche Notunterkunft beherbergt die, die alles verloren haben. Auch die Leute aus Ostpreußen wie Frieda, ein Opfer russischer Vergewaltigungsexzesse. Hier hält man zusammen, organisiert sich so gut es eben geht und feiert sogar eine christlich-jüdische Weihnacht. Für die Kinder sind die zerstörten Gebäude wie ein großer Spielplatz. Hier können sie toben, sich verstecken und neues entdecken.
Der Wiederaufbau lässt die Familie in eine neue Wohnung umziehen. Sie betreiben einen Wäschehandel. Das Wirtschaftswunder entfaltet sich. In den Bäckereien gibt es leckere Amerikaner, an den Kiosken werden Comics verkauft und die Eltern haben eine Lesemappe abonniert. Der Junge liest die Kinderausgabe vom Stern „Das Sternchen“, der Vater den Spiegel. Im Café Kranzler spielt ein richtiges Orchester, es duftet nach geröstetem Kaffee und nach Zigarre. Beim Fotografen bestaunen sie ihre Urlaubsbilder und im Fischgeschäft sind echte Fische zu sehen. Statt Ampeln gibt es Verkehrspolizisten, deren gute Arbeit manch einem ein Weihnachtsgeschenk wert ist. Es ist die Zeit der Chinarestaurants und der Kinderlähmung. Zum Alltag gehört aber auch das Vorlesen für den kranken Vater, den er bald verlieren wird.
Ein deutscher Nachkriegsalltag, in dem die gerade statt gefundene Vergangenheit ausgeblendet wird, indem ein Bewusstsein der Verstrickung in Verbrechen und deren Verantwortungsübernahme nicht vorhanden ist. Unbehelligt führt der Täter sein Leben fort. Ein Täter, dem man fast überall begegnet. Die Spielkameradinnen des Jungen können stolz auf ihren Vater sein. Ein hohes Tier bei der Degussa, die unter anderem das Gold der ermordeten Juden geklaut hat. Der Junge wächst heran und verliebt sich in eine Französin. Eine Beziehung, die von beiden familiären Seiten akzeptiert wird. Nur deutsch sein, das ginge nach den Kriegserfahrungen nicht.
Auf dem Gymnasium ist der Junge der einzige Jude umringt von Lehrern der alten Schule. Die Mutter sieht ihn in der Tradition der verstorbenen Verwandten als Arzt. Er kann der Anforderung und der Hinterlassenschaft der Toten nicht gerecht werden. Die Schule schafft er gerade so, hängt seine Zeit ab, bis er seinen Weg in den Journalismus findet. Dazwischen feiert er seine Bar Mizwa, zu der seine in der Welt verstreuten noch lebenden Verwandten kommen. Die aus Belgien mit eintätowierten Nummern auf den Armen, die den Holocaust sichtbar machen, die anderen aus Frankreich und wieder andere wie Onkel Jack aus den USA. „Onkel Jack bedeutet Rock’n’ Roll, Coca-Cola und Kaugummi.“ und Aufbruch. Die Religion schafft für den Jungen keinen Raum. Als Jude im Nachkriegsdeutschland und mit der Vergangenheit der Eltern konfrontiert hat ihn „das Leben unreligiös gemacht.“.
Michel Bergmann erzählt über eine jüdische Kindheit oder gar seine jüdische Kindheit in den 1950er Jahren im Deutschland der Nachkriegszeit. Der nicht benannte Junge als Symbol für die zweite Holocaustgeneration. Das hinweggefegte jüdische Selbstverständnis kann sich auch im Nachkriegsdeutschland nicht etablieren. Jude sein bleibt weiterhin eine Odyssee. Jude sein heißt anders, heißt fremd zu sein. Das Wirtschaftswunder hat die Trümmer weitgehend beseitigt, aber nicht den Antisemitismus. Der befindet sich nur im Gefrierprozess. Zeitweilig ist er etwas zur Ruhe gekommen, gestoppt und vernichtet worden ist er jedoch nicht. „... die Juden, die werden von allen Seiten belehrt, was es heißt, Jude zu sein, und wie man sich als solcher zu benehmen hat. Der Täter als Bewährungshelfer.“. Michel Bergmann spricht vom „Moralfundamentalisten“.
Alles was war, eine Erzählung, die ergänzt werden kann um Alles was ist. Was ist, ist auf jeden Fall eine antisemitische eingefrorene Vergangenheit, die Gefrierbrand aufweist. Die braunen antizionistischen Äußerungen und Verdrehung von Tatsachen was Israel und den Nahen Osten betrifft weisen auf eine ungenießbare, tief verankerte gesellschaftliche Grundtendenz hin. Die notwendige Reflexion zur eigenen Historie findet erst auf Druck von außen statt. Ein Nachdenken über Auschwitz und die dortigen Verbrechen benötigt nicht nur fast 20 Jahre, sondern einen Mutigen wie Fritz Bauer. Und die Degussa, die schweigt bis weit in die 1990er Jahre über ihre Verstrickung in die NS-Vergangenheit. Erst nach einer Sammelklage ehemaliger Zwangsarbeiter und einer nicht mehr zu negierenden NS-Verwicklung beginnt der Reflexionsprozess. Ein Reflexionsprozess, der das ehemalige Gesamtunternehmen mit seinen Beteiligungen wie der Degesch, die für die Produktion von Zyklon-B verantwortlich gewesen ist, in den Fokus rückt. Zur Zeit und das heißt im Jahr 2014 hören wir wieder „Juden ins Gas“ Rufe und „man wird doch wohl mal sagen dürfen...“. Was bleibt ist der Jude, verurteilt zum Straftäter und zwar zum lebenslangen.
Alles was war ist ein wirkliches Kleinod über eine jüdische Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Ein Stück deutsch-jüdischer Geschichte erzählt mit dem Blick eines Alten auf das Kind in sich.
Alles was war, Michel Bergmann, Erzählung, 2014 by Arche Literatur Verlag AG, Zürich-Hamburg, Hardcover, 128 Seiten, ISBN 978-3-7160-2716-5, 14,00 [D] 14,40 [A], 18,90 SFR
© Soraya Levin