Walther Rauff, leidenschaftlicher Offizier zur See und leidenschaftlicher Vernichtungstäter im Holocaust.
In seiner biographischen Studie befasst sich Martin Cüppers, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Ludwigsburg, mit der Entwicklung Rauffs vom gewöhnlichen Menschen hin zum Nazitäter. Im Fokus steht die Frage nach den generationellen und sozialpsychologischen Einflüssen auf Rauff. Soziokulturelle und ideologisch-moralische Haltungen bilden den Ausgangspunkt der Motivrecherche. In die Betrachtung eingebettet sind die gesellschaftlichen Umbrüche im beginnenden 20. Jahrhundert, die NS- Vernichtungspolitik, die Haltung des Nachkriegsdeutschlands und das für weite Teile der Gesellschaft symptomatisch mangelnde Unrechtsbewusstsein.
An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert wird Walther Rauff 1906 in ein großbürgerliches Elternhaus hineingeboren. Seine Kindheit und Jugend sind eingebettet in ein gesellschaftliches Bezugssystem vom kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung der frühen 1920er Jahre sowie in Erziehungsidealen von Befehl und Gehorsam. Der sozio- kulturelle Einfluss der patriarchalisch-wilhelminischen Gesellschaft legt vermutlich bei Rauff den Grundstein für die Herausbildung eines autoritären Ethnozentrismus, der in der historischen Stabilität des Antisemitismus mündet. Martin Cüppers spricht in diesem Zusammenhang zu Recht davon, dass es sich um „eine bedrohliche Hypothek für die Zukunft“ handelt.
Mit der Industrialisierung und dem Übertritt in die Moderne entwickeln sich soziale Widersprüche, die in einem sozialen Vakuum kumulieren. Die Folgen sind neben der Entfesselung des Nationalismus und imperialen Großmachtstrebens eine völkisch- rassistische Aggression gegen die Juden.
Die „beschämende“ Niederlage des Ersten Weltkriegs und die Überwindung der Feudalstrukturen schaffen weitere Verunsicherungen und bedingen eine gesellschaftliche Entwicklung, die nicht reif für den Parlamentarismus der Weimarer Republik ist. Forciert durch die Weltwirtschaftskrise kommt es zur politischen Radikalisierung breiter Massen. Obwohl Rauffs politisches Selbstverständnis weiterhin an der alten kaiserlichen Ordnung haftet, sind die entscheidenden radikalen Abwehrmechanismen seiner Alterskohorte bei ihm nicht fest zu stellen.
Vielmehr konzentriert er sich auf die Familientradition und schlägt die Laufbahn eines Seeoffiziers ein. Die Reichsmarine bildet ein antidemokratisches Subsystem innerhalb der neuen Republik. Rauff kann an den ehemaligen kaiserlichen Korpsgeist anknüpfen. Neben seiner Heirat und seiner Beförderung zum Kapitänleutnant verläuft sein Leben ohne Vorkommnisse. Eine Zäsur bildet sein Ehebruch. Die Verletzung des Ehrenkodex der Marine bedeutet 1937 seine Entlassung aus der Marine und den Weg in eine verunsicherte Zukunft.
Kein Jahr später beginnt Walther Rauffs außergewöhnlicher Aufstieg im nationalsozialistischen Terrornetzwerk. Angestellt beim Sicherheitsdienst im Reichssicherheitshauptamt unter dem „Architekten des Holocaust“ Reinhard Heydrich und als Mitglied der SS beginnt Rauffs Teilhabe am fanatischen Völkermord der europäischen Juden. Ab 1939 ist der Hauptsturmbannführer eingeweiht in die Tötungsmaschinerie. Nichts deutet auf eine Abgrenzung von dem bestialischen Mordmilieu hin. Vielmehr teilt Rauff die Ziele der völkisch-antisemitischen Ideologie und wird zur bedeutenden Schlüsselfigur des arbeitsteiligen europäischen Mordens.
Mit Entschlossenheit treibt er ab 1941 den Bau von sogenannten fahrbaren Gaskammern voran. Er liefert eine effiziente Qualität der Mordtechnik, die in kontinuierlichen Vergasungstests mit Gefangenen verbessert wird und bis Kriegsende bis zu einer halben Million Toter fordert.
Ab 1942 wird Rauff beauftragt, den Holocaust in den Nahen Osten zu transportieren. Den tunesischen Juden droht er „Ich habe schon Juden in Polen und Russland umgebracht, ich werde Euch noch zeigen, was Ihr von mir zu erwarten habt.“.
Der sichtbare arabische Antisemitismus unterstützt überwiegend die mörderische deutsche Entschlossenheit. Der Großmufti von Jerusalem Hadji Mohammed Amin el Hussein forciert bereits in den frühen 1920er Jahren antijüdische Pogrome. Mit Hilfe Hitler-Deutschlands sieht er die Chance zur Judenvernichtung im arabischen Raum. In den Aufzeichnungen des Gesandten Schmidt zur Unterredung Adolf Hitlers mit dem Großmufti ist zu lesen „Die Araber seien die natürlichen Freunde Deutschlands, da sie die gleichen Feinde wie Deutschland, nämlich die Engländer, die Juden und die Kommunisten, hätten.“.
Die arabische Endlösung der Judenfrage scheitert am Widerstand der Alliierten. Rauff erhält im September 1943 das Kommando in Westoberitalien. Er ist an Massaker im Rahmen von Sühnemaßnahmen und für die Deportation von Tausenden von Juden in die Vernichtungslager verantwortlich.
Am 30. April 1945 wird er von den US-Amerikanern im Hotel Regina in Mailand festgesetzt.
Mit Hilfe der katholischen Kirche gelingt ihm Ende 1946 die Flucht. Über die sogenannte Rattenlinie gelangt er über Ägypten nach Syrien. Als Berater des syrischen Geheimdienstes kann er sein völkisches Verständnis nun gegenüber dem neuen Staat Israel weiter fortsetzen. Nach dem syrischen Militärputsch im August 1949 siedelt er mit Wissen amerikanischer Geheimdienste nach Ecuador über. Als Kaufmann und Vertreter für deutsche Firmen beginnt er mit seiner Familie ein neues Leben. 1953 erhält er von der deutschen Botschaft neue Papiere. Kaltschnäuzig und sich seiner Sache sicher beantragt er beim bundesdeutschen Staat sogar Pensionsansprüche für seine Marinediensttätigkeit.
In seinem neuen Leben gibt es keinen ideologischen Wendepunkt.
Vielmehr wird eine Abwendung von Schuld durch Äußerungen wie „Wenn man nämlich hier draußen sieht, wie den Juden von Bonn das Geld vorne und hinten hineingesteckt wird, dann kann man nur das Kotzen bekommen.“ sichtbar.
Die Frage nach der ideologischen Basis ist ebenfalls an das Nachkriegsdeutschland zu stellen.
Als einer seiner Söhne 1954 für die chilenische Militärakademie eine Ehrenerklärung der Bundesrepublik Deutschland benötigt, erklärt die deutsche Botschaft die Rauffs als eine Familie „deren Moral und Ehrenhaftigkeit ihn würdig erscheinen lasse“. Die Verflechtung des neuen Deutschlands wird mit dem Jahr 1958, dem Übersiedlungsjahr Rauffs nach Chile, noch deutlicher. Rauff wird freier Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und kann 1960 unbehelligt in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Obwohl Rauff allerspätestens nach dem Eichmann Prozess als Akteur des Völkermords identifiziert ist, passiert seitens der deutschen Justiz fast gar nichts. Ein erteilter Haftbefehl, der noch nicht mal für Deutschland gilt und ein Auslieferungsersuchen sind kein Indiz für die Verfolgung des NS-Täters, da beides nur mäßig vorangetrieben wird. Hohe chilenische Militärs decken zudem Rauff. 1963 wird das Auslieferungsersuchen seitens der chilenischen Regierung abgelehnt. Walther Rauff, ein NS-Mörder in Freiheit.
Walther Rauff - in deutschen Diensten. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion ist nicht nur die Lebensgeschichte eines gewöhnlichen Menschen, der zum Mörder wird. Es ist das biographische Hinterfragen wie ein Mensch, ein Ehrenmann der Marine, im Stande sein wird, sich als Komplize der Barbarei an der Vernichtung der europäischen Juden zu beteiligen. Welcher Motivlogik folgt seine destruktive menschenverachtende Haltung?
Martin Cüppers rekonstruiert Rauffs Werdegang zum Täter. Eingebettet in die gesellschaftlichen Umbrüche vom 19. zum 20. Jahrhundert und der Dimension des Ersten Weltkriegs ist keine transgenerationelle Vererbung oder politische Radikalisierung bei Rauff zu orten. Vielmehr richtet er seinen Weg in der familiären Tradition aus und sucht seinen Platz in der Marine. Bis hierhin ist er noch nicht ideologisch politisiert. Sein Ausschluss aus der Marine macht ihn mittellos. Nach der primitiven Logik ist er zur Aufrechterhaltung seines Lebensunterhalts gezwungen, sich dem RSHA anzuschließen. Kein tragisches Schicksal treibt ihn in das verbrecherische Netzwerk, sondern seine selbstbestimmte Wahlentscheidung. Sein Austritt aus der Kirche kann ein Signal sein, um die christliche Moral „Du sollst nicht töten“ leichter über Bord zu werfen. Oder sind es nur Anbiederungsmechanismen an die Nazis, die der Karriere dienen sollen? Ob Habgier oder sonstige niedrige Beweggründe, die komplexe Verbrechensdimension ist ihm nicht nur bekannt, sondern mit seiner Konstruktion der mobilen Gaswagen mischt er tatkräftig bei der Ermordung der europäischen Juden mit.
„Die Juden, häufig Männer und Frauen gemeinsam, wurden entweder unbekleidet oder in ihrer Unterwäsche in die Wagen gepfercht. Die Hecktüren wurden geschlossen, und die Vergasung im stehenden Fahrzeug begann... Bei günstigen Bedingungen konnte ein solcher Wagen pro Tag vier oder fünf Fuhren bewältigen.“, jede Fuhre eine Kennzahl des tötenden Geschäftsprozesses. Ein Prozess, indem ein Mensch zur Ware wird. Die Moderne lässt keine Distanz mehr zu und überträgt ihre industrielle Massenfertigung auf die industrielle Massentötung. Die einen konstruieren die mobilen Gaswagen, die anderen beschaffen das Gas und wieder andere fahren die Mord-LKWs. Ein Vernichtungsprozess, der durch den antisemitischen Nährboden im Nahen Osten globalisierte Formen annimmt. Eine Tötungskollaboration, die sich über den Krieg hinaus zieht.
Cüppers schreibt hierzu:
„Abgesehen davon, dass Rauff seine Taten nie bereute und letztlich bis zu seinem Tod Hitlers Ideologie treu blieb, ist er über Jahrzehnte von Institutionen und zahlreichen Einzelpersonen sowohl in seinem Exil als auch in der Bundesrepublik unterstützt worden, statt sozial geächtet und einer gerechten Bestrafung überantwortet zu werden. Nicht zuletzt das zählt zu den bitteren Erkenntnissen, die aus seiner Biographie gezogen werden müssen.“
Ein soziokulturelles Milieu, das Gewalt legitimiert, in Unrecht nicht eingreift, unendliches Leid relativiert bis negiert, das tolerant und großzügig, ja geradezu human mit den entlarvten Tätern umgeht, dessen gesellschaftliches Selbstverständnis keinerlei Empathie und Unrechtsbewusstsein zeigt, führt nicht nur zur Adaption und Festigung von radikalen menschenverachtenden Ideologien, sondern zwingt uns, unser Menschenbild und den Humanismus in Frage zu stellen.
Für Cüppers ist der einzige Schutz gegenüber diesem destruktiven menschlichen Potential die Demokratie. Demokratische Strukturen bieten dahingehend Schutz, dass Gewalt sich nicht legitimiert entladen kann. Sie sind jedoch nur ein Aspekt in der diffizilen Motivsuche für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn die subtile Gewalt bleibt im Bewusstsein verankert. Rauff bleibt nach dem Krieg ein ideologischer Täter, der sich als „staatlich geprüfter Kriegsverbrecher“ bezeichnet und sich „Im Geiste ... bei allen wie weiland Horst Wessel“ sieht. Die Gesellschaft in der neuen Bundesrepublik bekennt sich nicht zu ihrer sittlichen Verantwortung, sondern versucht mit ihrer Schlussstrichdebatte die Erinnerung an die Mittäterschaft abzuwehren. Die verschiedenen Aspekte der Relativierung gegenüber der eigenen Historie haben bis heute in Form der Schuldprojektion auf den Staat Israel Bestand.
Die institutionelle Verflechtung, über die Kirche bis hin zur Justiz und der politischen Ebenen, im In- sowie im Ausland, in der Kriegs- und Nachkriegszeit mit den NS-Tätern, weist nicht nur auf eine ideologische Grundausrichtung hin, sondern zeigt, dass das Interesse, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden, kaum vorhanden ist.
In „Die Vernichtung der europäischen Juden“ schreibt Raul Hilberg hierzu:
„Über die große Masse der Täter liegen keine Berichte vor. Wir wissen, daß einige sich in Spanien und Argentinien aufhalten, andere in den arabischen Ländern des Nahen Ostens; etliche haben Zuflucht in italienischen Klöstern gefunden; zahlreiche andere verbargen sich zweifellos in ihren Wohnungen, aber die meisten von ihnen sind einfach übergangen worden.“ und ihre begangenen Verbrechen sind – wie bei Walther Rauff - folgenlos geblieben.
Die biographische Studie über den NS-Verbrecher Walther Rauff zeigt, dass der Anspruch an die Ethik sowie an die Definition des Zivilisationsprozesses neu zu denken ist, denn - auch wenn viele Menschen dem Gedanken keinen Platz einräumen wollen - die Wurzel des Destruktiven liegt im Menschen selbst. Es ist keine Gehirnwäsche, die gewöhnliche Menschen zum Täter macht. Der Nährboden ist bereits gut gedünkt vorhanden, die Saat ist nur noch auszustreuen und geht von allein auf.
Martin Cüppers weist auf die immense Bedeutung unserer Demokratie als Phalanx gegen menschenverachtende Auswüchse hin. Demokratie trägt sich nicht allein, sondern wird von Menschen getragen. Sie bietet keine Abwehr gegenüber einem gesellschaftlichen Unrechtsbewusstsein und mangelndem Gerechtigkeitsempfinden, ist jedoch das einzige Schild, das wir gegen die menschliche Barbarei einsetzen können.
Martin Cüppers, Walther Rauff – in deutschen Diensten. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion, Wissen, (Bd. 24), 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt, 440 Seiten mit 13 s/w Abb., Bibliogr. Und Reg., gebunden, Reihe: Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, ISBN 978-3-534-26279-3, WBG- Preis EUR 39,90, Buchhandelspreis EUR 49.90,
© Soraya Levin