"Herr Ingenieur" nannten ihn die einen, Nazi-Jäger die anderen. Simon Wiesenthal, ostgalizischer Jude und Überlebender des Holocaust, dessen Lebensaufgabe die Jagd nach NS-Verbrechern wurde. Von den einen bewundert und geliebt, von den anderen gehasst und von dem Historiker und Journalisten Tom Segev nun die großartige Biografie.
Ich habe euch nicht vergessen
Wo anfangen in dem Leben dieses berühmten Simon Wiesenthals? Eines Hollywoodhelden, eines Mannes mit etlichen Auszeichnungen und Ehrendoktorwürde, eines Mannes, den die Präsidenten der Vereinigten Staaten mit Handschlag begrüßten. Eines Mannes, der eine Zahl von KZs überlebt hat, der nur durch Zufall seine Frau wiedergefunden hat, der sich über 50 Jahre seines Lebens der Jagd nach den NS-Tätern widmete. Eines Mannes, dessen Heimat das "Land der Mörder" blieb.
Im Mai 1945 wird der bis auf 44 kg abgemagerte 37-jährige Simon Wiesenthal von den Amerikanern aus dem KZ Mauthausen befreit. Dankerfüllt besteht Zeit seines Lebens eine enge Bindung an die USA.
Die Straßen sind noch voller Judenhass, die Österreicher voller Antisemitismus als Wiesenthal seine Jagd gegen die Zeit beginnt. Während die österreichische und deutsche Justiz weitgehend schweigt, die Verurteilungen der Täter mit ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und tausendfachem Mord auf Sparflamme laufen, von zehn potentiellen Tätern neun freigesprochen werden, während im "Land der Mörder" die Mörder wieder in ihren Funktionen in der Politik, Justiz, Kultur und Wirtschaft sitzen, während andere Täter unbehelligt im Ausland leben, ruft Wiesenthal zu den Überlebenden und den Toten des Holocaust: "Ich habe euch nicht vergessen".
Das fehlende Bollwerk
Sein Leitspruch wird zum Hoffnungsanker für Gerechtigkeit, für das Wachhalten der Erinnerung an die Vergangenheit, für eine strafrechtliche Verfolgung der Täter. Wiesenthal gründet das Dokumentationszentrum jüdischer Verfolgter des NS-Regimes. Doch hinter dem Zentrum steht kein Bollwerk einer mächtigen Organisation. Kein finanzieller und kein personeller Rückhalt. Tatsächlich ist der stets von "wir" sprechende Wiesenthal nur "einer". Einer im Kampf für Gerechtigkeit, einer auf der Jagd nach den Tätern. Einer, der aus seinem kleinen Büro in der Wiener Salztorgasse heraus die Fäden zieht, in dem Labyrinth nach der Wahrheit sucht. Er sammelt und häuft Informationen, befragt Zeugen, durchstöbert Zeitungen, die alten wie die neuen, wühlt sich durch Karteikarten, ist in Verbindung mit dem Deutschen Roten Kreuz und jüdischen Gemeinden, schreibt Briefe und Telegramme, telefoniert mit Politikern und Staatsmännern sowie der Presse, agiert mit dem Geheimdienst Mossad. Er fährt Kampagnen gegen die Verjährung der mörderischen Verbrechen in Deutschland und Österreich. Er mutmaßt, gibt Hinweise, streut Gerüchte über die Täter und ihren Aufenthalt, nutzt hierfür die Presse, fällt auf vermeintliche Zeugen und Helfer rein wie Ingrid Rimland, Autorin und Holocaustleugnerin.
Er macht sie ausfindig, die Mengeles und Eichmanns. "An diesem Ort, an dem ich hier vor Ihnen stehe, Richter in Israel, um die Anklage gegen Adolf Eichmann zu erheben, stehe ich nicht allein. Mit mir stehen hier zu dieser Stunde sechs Millionen Ankläger". Worte des Chefanklägers Hausner, die dem in Israel geführten Prozess die entsprechend internationale Aufmerksamkeit verleihen. Aufmerksamkeit und Lob ganz besonders für den Jäger und Fänger Eichmanns, Simon Wiesenthal. Die Glückwünsche aus Yad Vashem bedeuten ihm unsagbar viel.
Auf dem Weg zur bedeutenden Persönlichkeit
Wiesenthal verarbeitet seine Jagd nach den Nazi-Verbrechern literarisch in Büchern wie "Doch die Mörder leben" und "Wie ich Eichmann suchte und fand". Bücher, die ihn berühmt machen, die neben Mythen wie der Geheimakte Odessa verfilmt werden, die seine finanzielle Situation verbessern. Die aber vor allem Menschen motivieren, NS-Täter zu suchen. Je berühmter Wiesenthal wird, desto mehr bewundern ihn, desto mehr begeben sich in seine Spur. So auch Beate Klarsfeld, die zur erbitterten Konkurrentin der NS-Verbrecherjagd wird. Mit anderen geht er Allianzen ein und stellt für die internationale Menschenrechtsorganisation in Los Angeles seinen Namen zur Verfügung. Er möchte mitsprechen, ist verbittert, wenn er übergangen wird, wenn er schlicht weg nur ein Aushängeschild ist. Enttäuscht will er mehrere Male dem Simon Wiesenthal Center seinen Namen entziehen.
Bittere Reibungen
Wiesenthal mischt die politische Szene auf und rasselt mit Politprofis wie Bruno Kreisky aneinander. Zwei jüdische Streithälse, die scharfe Attacken gegeneinander fahren. So bezichtigt Kreisky Wiesenthal der Kollaboration mit der Gestapo. Was bleibt, schmeckt bitter. Bitter schmeckt auch das harte Gefecht mit dem Jüdischen Weltkongress. Ausgangspunkt des Streites ist Wiesenthals Rückendeckung für den unter Verdacht der Kriegsverbrecherbeteiligung stehenden Kurt Waldheim. Schmerzvoll auch die außerordentlich feindlichen Attacken von Eli Rosenbaum, dem Chefsonderermittler gegen die Nazi-Verbrecher im Justizministerium der USA, der ihn als unbegabt, egomanisch und verlogen bezeichnet. Eine tragische Figur, die lügt, die Fehlinformationen weitergibt, die sich Märchen ausdenkt wie im Fall Eichmann, den er selbst gar nicht gefangen hat. Eine tragische Figur, die nicht nur eine falsche Anerkennung erntet, sondern die Aufklärung von NS-Verbrechen mitunter verhindert. Der Redaktionsleiter des Nachrichtenmagazins Panorama bezeichnet ihn im Februar 1996 sogar als " ...Maulheld ...“.
Die Verstrickung in die Affäre Waldheim vereitelt nach Einschätzung von Tom Segev die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis, der an Elie Wiesel geht.
Der große Sammler, weit über 30.000 Blatt Papier, unzählige Dokumente und Akten, der die vielen Schmäh- und Drohbriefe in die Ordner "M" für meschugge packt, stirbt im Alter von 97 Jahren in Wien.
Auf dem Weg zum Einzelkämpfer
Tom Segevs Biografie über Simon Wiesenthal, eine gelungene, sehr gut umgesetzte Lebensgeschichte des Nazijägers Simon Wiesenthal.
Die intensiven Recherchen Segevs geben einen tiefen Einblick in die Last des mitgetragenen Leids der Überlebenden des Holocaust. Wiesenthal steht stellvertretend für sie. Es ist die Geschichte eines im hinterlassenen Scherbenhaufen des Krieges nach Gerechtigkeit suchenden Mannes, die Segev erzählt. Wie ein Goldschürfer taucht Wiesenthal in die tiefsten Minen der Welt ein und wird für Jahrzehnte zum Spurenleser.
Seine Suche nach den NS-Tätern führt vor Augen, dass die Nachkriegsjustiz die Verfolgung der NS-Verbrecher bereits vor dem Beginn eingestellt hat. Täter wie der KZ-Arzt Aribert Heim oder der Henker von Wilna gehen straflos aus. Organisationen wie die "Stille Hilfe" engagieren sich für die Tarnung ehemaliger Nazis sowie für ihre Verteidigung, jahrelang unterstützt mit deutschen Steuergeldern. Das Klima in Österreich und Deutschland ist weiterhin antisemitisch, ehemalige Nationalsozialisten sind wieder in ihren Funktionen, vom Politiker bis zum Kaufmann. Der Kalte Krieg begünstigt das internationale Desinteresse an einer Verfolgung der ehemaligen NS-Täter, die zudem von Nutzen für die Geheimdienste sind. Und selbst der neu gegründete israelische Staat sieht sich vor anderen Problemen. In dieser Atmosphäre wird Wiesenthal zum Einzelkämpfer.
Vernichtung der moralischen Reputation
Die Zeit arbeitet gegen ihn und auch eine Menge Leute, die in ihm einen nicht mehr zu vernachlässigenden Machtfaktor sehen. Der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky wirft ihm mafiähnliche Methoden vor. Verbrechersyndikate werden als Mafia bezeichnet. Ist es ein Verbrechen, die Erinnerung an Massenmörder aufrecht zu erhalten? Ist es ein Verbrechen, alles zu probieren, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf diese NS-Täter zu lenken? Und wenn es nur mit Gerüchten geht, und wenn es nur mit Erfolgsgeschichten "Wie ich Eichmann suchte und fand" geht? Ist es ein Verbrechen zu sagen, "Ich habe euch nicht vergessen" während alle anderen vergessen wollen und vergessen haben? Akribisch suchen seine Gegner nach Beweisen, um Wiesentals moralische Reputation in Verruf zu bringen. Sie sprechen wie der im Februar 1996 in der ARD ausgestrahlte Panorama Beitrag vom entzauberten Mythos, davon dass Wiesenthal "seinen Ruhm auf einer Lüge aufgebaut" hat, indem er behauptet Eichmann gejagt und gefunden zu haben. Zu Wort kommen Wiesenthals Gegner wie Eli Rosenbaum, Chef der Sonderermittler gegen Nazi-Verbrecher im US Justizministerium und der Chef vom Mossad, der Reporter Ottmar Katz, der ehemalige israelische Botschafter. Sie entblättern den Mythos Wiesenthal, überführen ihn der Lüge, seine Spuren überwiegend frei erfunden, seine Erfolgsbilanz der Überführung der Nazi-Täter getürkt, seine Rolle bei der Festnahme von ehemaligen Tätern eher unbedeutend, wohl aber hinderlich bei der Auffindung der Täter. Verhängnisvoll seine Fürsprache für Kurt Waldheim, schlicht weg ist er eine "tragische Figur". Eine Figur, die laut Eli Rosenbaum alle betrogen hat. Vom Journalisten Joachim Wagner als mit falschen Lorbeeren hochdekorierten Maulhelden bezeichnet. Dazwischen eine geschickte Medienmanipulation durch die in der Wiederholung eingeblendete Filmsequenz der Worte Wiesenthals "Es gibt keine Kompromisse mit der Wahrheit". Eine klare Botschaft, die Wiesenthals Integrität in Frage stellt und seine Doppelmoral enttarnt. Eine Botschaft, die Revisionisten Vorschub leistet.
Widersinniger Missbrauch der Biografie
Tom Segevs Biografie über Wiesenthal wird in einem befremdlichen Einklang undifferenziert missbraucht. Zum einen von der ARD Sendung Panorama sowie von dem Neonaziforum "Altermedia", wo es zu der Biografie heißt: "Aktuell enthüllte der jüdische Autor Tom Segev, daß Wiesenthal ein Agent im Dienste des Mossad war und es mit der Wahrheit nicht sehr genau nahm. Was dem Juden erlaubt ist, das ist dem Deutschen verboten. Auch hier zeigt sich, daß Recht nicht immer Recht, sondern auch oftmals nur Rache ist."
Auf der Internetseite von Panorama finden wir heute den Beitrag "Nazi-Jäger Wiesenthal: Ende des Heldenmythos". Der Sender nimmt Stellung zu der 1996 ausgestrahlten Sendung zu Wiesenthal. Tom Segevs Biografie wird als Rehabilitation herangezogen. Man lag richtig mit den Aussagen zu Wiesenthal, denn Segev deckt eine 'schädliche' "Neigung zu Phantastereien" auf. Der "Neigung zu Phantastereien" das Wort schädlich voranzustellen und somit einen rassebiologischen Begriff aus der Zeit des Nationalsozialismus für Wiesenthals Charakterbeschreibung zu nutzen, ist mehr wie eine Verunglimpfung Wiesenthals. Natürlich war vieles nur dem Zufall und zufälliger Begegnungen zu verdanken. Natürlich war manches ein Wunschdenken und manches der Aufmerksamkeit Willen bewusst lanciert. Auch wenn im Panorama Beitrag darauf hingewiesen wird, dass Wiesenthal sicher auch Verdienste hat, dass die Märchen nicht nur seine Schuld sind, so täuscht dennoch diese Aussage nicht darüber hinweg, dass das Opfer Schuld trägt. Panoramas Botschaft kommt an. Die geschürten Ressentiments werden gern von militanten Neonazis wie Gerd Honsik und dem Neonaziforum "Altermedia" aufgegriffen. So findet sich der jüngste Panorama Beitrag zu Wiesenthal in Auszügen auf der Seite "Altermedia", ergänzt durch Kommentare wie "Ein Byzantinismus den Leben und Werk Wiesenthals kaum verdient, handelt es sich bei ihm doch um einen der größten politischen Falschmünzer und Denunzianten der Weltgeschichte, der selbst in jüdischen Kreisen keineswegs unumstritten ist." Und der Neonazi und Holocaustleugner Ernst Zündle bläst auf seiner Website ins gleiche Horn. "Simon Wiesenthal: The Man or the Mask?"
Es mag keinen Zweifel daran geben, dass Wiesenthal bei den Spuren von Eichmann und Mengele falsche Angaben machte, dass er selbst fehlinformiert war oder bewusst Informationen streute. Doch die, die auf Wahrheit pochen, an welcher Stelle sind diese Institutionen mit ihrem Heer von Mitarbeitern eigentlich aktiv geworden? Geheimdienste, Staaten und Organisationen geben vor, sie hätten sich einzig nur auf Wiesenthal verlassen können. Geradezu lächerlich und absurd klingt das. Auch hier greift Panorama wieder zu nationalsozialistischen Kampfbegriffen und spricht von einer "Nibelungentreue" zu Wiesenthal.
Tom Segevs Biografie zu Wiesenthal ist ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen und für die Erinnerungskultur. Wiesenthals Lebensweg macht deutlich, dass irgendwo zwischen der Wirklichkeit die Wahrheit liegt. Was wir aus der Biografie mitnehmen und lernen können, ist mit Lessings Worten zu beschreiben. "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen."
Tom Segev, Simon Wiesenthal, Die Biographie, Originaltitel: Shimon Wiesenthal - Biographia, Originalverlag: Keter- Books, Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 576 Seiten, mit Abbildungen, Siedler Verlag München 2010, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, ISBN: 978-3-88680-858-8, € 29,95 [D] | € 30,80 [A] | CHF 48,50* (empf. VK-Preis)
© Soraya Levin