„Hört auf zu glauben, dass Ihr etwas tun könnt, ohne Euren Arsch zu bewegen.“, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer. Unseren Arsch sollen wir bewegen, um die offene Gesellschaft gegen die Demokratiefeinde zu verteidigen. Der Aufruf zur Verteidigung unserer offenen Gesellschaft ist zunächst ein wichtiger und notwendiger Appell. Diesen jedoch mit einem verbal derben Sprachstil zu untermauern, wirkt recht befremdlich. Denn auch wenn, wie Welzer es beschreibt, im Schatten des islamischen Terrorismus die Gegner der Demokratie an Größe gewinnen und sie sich aus ihrem latenten Versteck wagen, werden die schläfrigen Demokratieverteidiger nicht mit Sprachaggressionen geweckt werden können.
Gerade die Sprache ist es ja, die Welzer als Beleg für das Erstarken der Demokratiefeinde heranzieht. Als Beispiel führt er Horst Seehofer an, der scheinbar geradezu auf das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 gewartet habe, um es mit der Zuwanderungspolitik zu verknüpfen.
Es ist richtig, dass nach Terrorangriffen die politische Elite einem immer gleichen Mantra verfällt und im wilden Aktionismus die Verknüpfung mit der Zuwanderung hergestellt wird. Seehofer hat davon gesprochen, dass die Politik es den Opfern und der Bevölkerung schuldig ist, die Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik neu zu denken. Ist das bereits, wie Welzer es formuliert, der Niedergang unserer politischen Kultur? Da insbesondere nach Terroranschlägen die Sicherheit ein gesellschaftliches Bedürfnis ist, ist diese normative Setzung auch öffentlich zu diskutieren. Auch das gehört zu einer offenen Gesellschaft. Das von dem ehemaligen Innenminister Otto Schily zitierte „Grundrecht auf Sicherheit“ darf selbstverständlich nicht zu Vorverurteilungen und zu einer Rechtfertigung für die Einengung unserer bürgerlichen freiheitlichen Rechte führen.
Harald Welzer sagt, dass wir aus den Terroranschlägen lernen, dass es keinen absoluten Schutz gibt. Die Bürger dieses Landes sind mit Sicherheit nicht so naiv, dass sie davon ausgehen, auf einer Insel der Glückseligkeit zu leben. Was sie aber annehmen dürfen, ist die völkerrechtlich garantierte Sicherheit. Neben dieser ist aber auch die gefühlte Sicherheit nicht unerheblich für eine freiheitliche Demokratie. Welzer sieht diese gefühlte Unsicherheit durch die vielen Negativinfos herbeigeführt, die die Realität verzerren. Wo wird bitte schön die Realität verzerrt? Auch negative Informationen sind ein Bestandteil unserer Welt und unserer Identität. Natürlich kann durch die massige Informationsflut die subjektive Interpretation in eine gefühlte Unsicherheit münden. Da nützt es auch nichts, Statistiken heranzuführen, die uns verdeutlichen, dass wir höchst selten einem Terrorakt zum Opfer fallen und das viel geliebte Auto doch eher zum Tod führen kann.
Die Medienschelte, die Welzer mitschwingen lässt, ist in der Sache nur teilweise richtig. Die Medien sollten den Terroristen nicht die notwendige Plattform geben. Ja, ohne die Medien könnten die feigen Mörder keine Angst und keinen Schrecken verbreiten. Was heißt das aber zu Ende gedacht? Wir haben laut unserem Grundgesetzartikel 5 ein Recht auf Information. Wer bestimmt denn, was noch berichtet werden darf, was nicht und was in welchem Umfang? Es wäre der Weg in die Bevormundungsdiktatur und das will Welzer ja sicherlich nicht.
Wenn die Medien sich in der Berichterstattung selbst zensieren, widerspricht dieses ebenfalls unserem Grundgesetz auf Presse- und Meinungsfreiheit. Von einer offenen Gesellschaft würden wir uns in den beiden Punkten immer mehr entfernen und selbst zu Demokratiefeinden werden.
Ich stimme mit dem Autor darin überein, dass die mediale Plattform entscheidend ist für unsere Wahrnehmung. Die Medien sollten also nicht von Terroristen sprechen. Auch relativieren die vielen sich immer gleichenden medialen Erklärungsversuche die mörderischen Taten.
Hier plädiere ich eher für eine Berichterstattung, die die Täter als das bezeichnet, was sie sind: feige und erbärmliche Mörder mit Minderwertigkeitskomplexen, die unter anderem ihre menschlichen Gewalt- und Machtphantasien unter dem Deckmantel von Religion ausleben und die Blasphemie als politische Waffe benutzen, sich selbst aber in höchstem Maße blasphemisch verhalten.
Eine generelle Lösung für das Terrorismusproblem ist bislang weltweit nicht in Sicht. Welzer meint hier einen ersten Schritt liefern zu können. Da die Terroristen unter anderem die Demokratiefeinde benötigen, um eine Rechtfertigung für ihre Taten und ihren vermeintlichen Kriegszustand zu haben, sollten wir uns von den Feinden der Demokratie bei den Wahlen fern halten. Folge: die Demokratiefeinde verschwinden und die Terroristen haben einen Anker verloren. Die Ursachen für Terrorismus und insbesondere für den religiösen Terrorismus sind jedoch viel komplexer und nicht auf ein Freund-Feind- Schemata zu reduzieren. Denn Welzers Vermutung bedeutet, dass die Freiheitsfeinde die eigentliche Zielgruppe der Terroristen wären. Sind sie jedoch gar nicht. Denn der islamische Terrorismus existiert auch ohne den Westen. Wir müssen hierzu nur auf die Auseinandersetzungen zwischen den Sunniten und Schiiten sehen.
Die Angst muss auch nicht erst durch die Demokratiefeinde geschürt werden, denn diese ergibt sich durch und mit dem Terror. Auf die terroristisch strategisch ausgerichtete Provokation, die einzig darauf abzielt, uns aus der Reserve zu locken, sollen wir laut Welzer nicht eingehen.
Was wäre bitte schön die Alternative? Gar keine Reaktion und weiter so machen lassen? Gar kein Schutz oder wenigstens ein mäßiger Schutz?
Welzer bezieht sich auf Popper und dessen Demokratieverständnis der widerstreitenden Interessen, die die Notwendigkeit bedingen, Konflikte auszuhandeln. In seinen Forderungen weicht Welzer jedoch hiervon ab. Denn diejenigen Personen, die widerstreitende Interessen äußern, werden von ihm in den Topf der Demokratiefeinde geschmissen. Wo bleiben die Differenzierung und die politische Austragung des Konfliktes?
Natürlich ist unsere empfindliche Pflanze namens Demokratie zu hegen und zu pflegen und wir dürfen es nicht zulassen, dass sie angegangen wird. Vielen Menschen ist das nicht bewusst. Wie der Autor reflexiv bekundet, sind ihm die Errungenschaften des demokratischen Aufbaus durch die vorhergehende Generation auch erst 2016 deutlich geworden.
Man kann nur hoffen, dass diese Erkenntnis auch viele andere gewinnen. Der Wohlstand und unser Sozialsystem sind schließlich nicht vom Himmel gefallen. Auch unser Frieden ist kein Selbstverständnis. Und genau dieser Friede, den kaum einer wahrnimmt, ist laut Welzer bedroht durch die neoliberale Globalisierung mit ihrer gierigen antisozialen Haltung und ihrem radikalen Individualismus. Beispielhaft hierfür steht ein Transgender, der sich durch die Flüchtlinge diskriminiert fühlt und daher für einen weiteren Zuwanderungsstopp ist. Nach Welzer offenbart sich hier eindeutig ein rassistisches Verhalten von einer von Ausgrenzungserfahrungen betroffenen Minderheit, die sich in einer Wohlfühloase befindet und aus dieser watteweichen Position heraus Ansprüche einfordert und nun selbst ausgrenzt. Welzers Blick fährt hier durch die Einbahnstraße. Richtig, auch Transgender können in Deutschland Gleichberechtigung einfordern. In einer offenen und pluralen Gesellschaft sollte dieses - unabhängig von der Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen - ein Selbstverständnis sein und gar nicht erst eingefordert werden müssen. Was soll das mit der Position und mit dem Vergleich derjenigen, die aus eben nicht diesen bevorzugten Verhältnissen stammen?
Richtig, nicht alle Muslime sind homophob. Dennoch ist die Angst des zitierten Transgender nachzuvollziehen. Denn Transgender wiegt nicht minder schwer als die Homosexualität, die in fast allen arabischen Ländern ein Straftatbestand ist, für den es in einzelnen Ländern sogar die Todesstrafe gibt. Die Menschen aus diesen Ländern sind entsprechend sozialisiert. Davor können und dürfen wir nicht die Augen verschließen. Enkulturalisationsprozesse finden nicht von heute auf morgen statt, sondern dauern mitunter Jahrzehnte. Das sagt Welzer ja selbst. Eine kulturrelativistische Sichtweise ist hier völlig fehl am Platz und begünstigt und trägt Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen mit und schädigt unsere Demokratie. Hier macht es sich Welzer wirklich zu einfach und schmeißt eine schwarz-weiß Schablone auf. Es erfordert vielmehr eine ernsthafte multiperspektivische Debatte über unsere Wertebasis, die für jeden Bürger, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, zu gelten hat.
Zu diesen Werten gehört natürlich auch, dass eine offene Gesellschaft ihre Minderheiten nicht ausgrenzen darf. Aber genau diese Ausgrenzung sieht Welzer in Bezug auf die Flüchtlingskrise, die er mit der Judenfrage gleichsetzt.
Meines Erachtens weiß er sehr genau, dass dieser Vergleich nicht zu ziehen ist, daher schiebt er sofort sein Entlastungsargument nach: Der Prozess ist bei beiden identisch. Die deutsche Gesellschaft hat sich zwischen 1933 und 1941 in eine Ausgrenzungsgesellschaft verwandelt. Diese Ausgrenzungsprozesse würden wir jetzt auch gegenüber den Flüchtlingen sehen. Wenn man bereit ist, genauer hinzusehen, so wird deutlich, dass der Prozess der Ausgrenzung jedoch nicht identisch ist.
Dass in Deutschland die Mehrheit der Bevölkerung besonders nationalistisch ist, kann man nun wirklich nicht behaupten. Das ist aber genau ein wesentlicher prozessbegleitender Punkt neben dem Neidfaktor bei der Judenfrage gewesen.
Der jüdische Ausgrenzungsprozess hat auf einer völkischen Ideologie fundiert. Es geht auch nicht darum, dass die Welt errettet wird, wenn die Flüchtlinge vernichtet werden, wie es die Naziideologie in Bezug auf die Juden eingefordert hat.
Die deutsche Mehrheitsgesellschaft - und nicht nur begrenzte Teile - hat ihren Antisemitismus weit vor 1933 praktiziert. Die Juden sind über Jahrhunderte Opfer von Ausgrenzungen und schlimmen Pogromen gewesen. Der vorhandene Antisemitismus ist ab 1933 „nur“ entsprechend gebündelt worden. Welzer behauptet, dass es für die deutsche Bevölkerung undenkbar gewesen ist, dass ihre jüdischen Mitbürger ihrer Rechte beraubt werden. Diese Behauptung ist schlichtweg falsch und abwegig. Das bildungspolitische Aufstreben der jüdischen Deutschen ist von vielen abgelehnt worden. Bereits vor Adolf Hitler forderte der Juristenverband den Ausschluss der deutschen Juristen jüdischen Glaubens. Ab 1933 begann die sukzessive öffentlich betriebene Entrechtung der jüdischen Deutschen, ohne dass ein Aufschrei durch die Bevölkerung gegangen ist. Einen ähnlichen Prozess haben wir auf die Flüchtlinge bezogen definitiv nicht. Zudem hat es sich bei den Juden um deutsche Staatsbürger jedweden Alters gehandelt, die zunächst aus dem gesamten Kultur- und Berufsbereich verdrängt worden sind. Deren Eigentum durch Arisierungsprozesse widerrechtlich entwendet wurde. Deren Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Deren Deportationen in die Vernichtungslager gezielt geplant wurde. Der Boykott jüdischer Geschäfte bildete hierbei den Anfang. Wenn man schon von einem gleichen Prozess sprechen möchte, dann sehen wir diesen doch wohl eher bei der BDS Bewegung und den Boykott israelischer Waren sowie bei den geduldeten „Juden ins Gas“-Rufen zum Al Quds Tag auf deutschen Straßen.
Auch die von Welzer zitierte Konferenz von Evian ist nicht vergleichbar mit der heutigen Abschottungspolitik der EU. Evian zerteilte die Emigration in eine Flüchtlingsfrage und eine Judenfrage, die mit dem Schweizer Vorstoß der sichtbaren Stigmatisierung des J für Juden in ihrem Paß dieses verdeutlicht.
Das heißt, Ausgrenzung und Abschottung als alleinige Variable und als Beleg für einen identischen Prozess zu nehmen, ist nicht haltbar. Auch wenn einige AFD-Politiker eine sehr rechtslastige bis teilweise völkische Sprache verwenden, ist diese nicht mit dem Nationalsozialismus und deren ideologischer Basis der Stärkung der germanischen Rasse und der Lebensraumdoktrin zu vergleichen. Ebenso ist der Antisemitismus als eine tief verwurzelte Struktur breiter Gesellschaftsschichten nicht vergleichbar mit Ablehnungsprozessen gegenüber Flüchtlingen. Den Holocaust hier als Faustpfand zu nutzen, bedeutet diesen ganz bewusst zu relativieren.
Welzer macht sich Sorgen. Ja, auch ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie. Sie zu schützen und sie zu verteidigen ist eine Bürgerpflicht, wenn wir einer Entdemokratisierung entgegen wirken wollen.
Welzer führt zwei wesentliche Verursacher für eine Entdemokratisierung an. Zum einen die Eliten, die ein mangelndes Systemvertrauen durch ihr Verhalten hervorgerufen haben. Die Systemzuverlässigkeit ist tatsächlich an vielen Punkten nicht mehr gegeben. Diese ist aber zwingend notwendig, um eine Orientierung für die eigene Identität zu haben. Populisten und deren Parteien, die einfache Antworten auf komplexe Zusammenhänge liefern, können leicht in diese Lücke treten und als alternatives Angebot gesehen werden. Den zweiten Verursacher einer schleichenden Entdemokratisierung sieht Welzer in den Konzernen wie Google und Facebook mit ihrer smarten Diktatur der Überwachung. Betrachten wir George Orwells 1984 dann haben wir tatsächlich diese smarte Datendiktatur, deren langfristige Entwicklungslinien beängstigend sind. Eine offene Gesellschaft hat sich den Fragen der Digitalisierung ganz offen zu stellen, statt von einer Digitalisierungsdiktatur besetzte Angstmuster zu bedienen. Wie viel Offenheit wollen wir haben und wie viel Offenheit sind wir bereit dafür zu geben?
Welzer findet keine Antwort, warum die Parteien nicht die Sicherung der Freiheit als Kernforderung aufstellen.
Er findet aber eine Antwort, die offene Gesellschaft zu schützen. Zum einen dadurch, dass die Bürger ihr Wahlrecht wahrnehmen. Zum anderen ruft er mit der im Winter 2015 gegründeten Debattenreihe zur offenen Gesellschaft zum analogen Dialog auf.
Statt einer intellektuell abgehobenen Sprache wählt Welzer einfache und klare Sätze. Er möchte aufrütteln und appelliert mit einem teilweise pöbelnden Sprachstil an den Leser, unsere offene Gesellschaft zu verteidigen. Obwohl Welzer an vielen Stellen schlichtweg nur wütend und emotional gesteuert wirkt und dieses sehr hinderlich für eine notwendige Debatte ist, regt sein Buch zum intensiven Diskurs über unsere Gesellschaft und ihre Widersprüche an.
Harald Welzer, Wir sind die Mehrheit, Für eine Offene Gesellschaft, Fischer Taschenbücher, 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 128 Seiten, Preis € (D) 8,00 | € (A) 8,30
ISBN: 978-3-596-29915-7
© Soraya Levin