Wird eine Diktatur überwunden, so stellt sich die Frage wie Moral und Politik, Recht und Gerechtigkeit miteinander in Einklang gebracht werden können. Kommen Rechtsinstrumente zum Einsatz, wird sich in erster Linie an den Rechtsnormen orientiert und nicht an der Forderung nach Gerechtigkeit. Menschen interpretieren aber das juristische Normengefüge sehr unterschiedlich. Ausgangspunkt ist - ob bei dem Täter oder Opfer - fast immer das Eigeninteresse. Wie werden juristische Entscheidungen geleitet?
Gibt es ein Bewusstsein für Unrecht?
Wie erfolgt die Bestrafung der Täter?
Wie erfolgt die Wiedergutmachung, die Entschädigung an die Opfer?
Wie verändert sich die Rechtsprechung im Kontext wechselnder staatlicher und gesellschaftlicher Ansprüche?
Wie verändert sich die Rolle der Justiz und der Status von Tätern und Opfern?
Wo sind Wechselwirkungen zwischen dem Recht und sozialem Handeln erkennbar?
Wie sieht die juristische Verfolgung von begangenem Unrecht in Diktaturen aus, welche Straftatbestände werden genutzt?
Wie sieht die Verbindung von Rechtstheorie und Rechtspraxis aus? Der norwegisch/nordamerikanische Soziologe Jon Elster - einer der wichtigsten Vertreter der rationalen Entscheidungstheorie - widmet sich in seinem Buch diesen Fragen, die sich mit der juristischen Vergangenheitsbewältigung nach dem Ende einer Diktatur stellen.
Im ersten Teil des Buches beleuchtet der Autor exemplarisch anhand ausgewählter Länder die Rechtspraxis der Übergangsjustiz. Er beginnt mit dem Athen der griechischen Antike, schildert die Übergangsjustiz während der französischen Restauration, blickt auf Länder in West- und Südeuropa, Lateinamerikas, Südafrika nach der Apartheid, auf Osteuropa und insbesondere auf Deutschland nach 1945 und 1989.
Im zweiten Teil erfolgt die vergleichende Analyse der verschiedenen Fallbeispiele, mit deren Hilfe Jon Elster die unterschiedliche Auslegung der Rechtspraxis erklärt. Der Autor zeigt die Interessen der Akteure und ihre strategischen Handlungen sowie ihre Handlungsbeschränkungen im jeweils historisch-politischen Kontext auf. Er rückt dabei den Umgang der deutschen Justizbehörden mit der Vergangenheit in den Blickpunkt.
Besonderes Augenmerk legt Jon Elster hier auf die strafrechtliche Aufarbeitung der NS- Justiz. Der Autor gibt einen Einblick in die Psychologie der Täter und Opfer. Motivation, Verhalten und Reaktion werden beleuchtet. Ebenso die Auswirkungen auf andere Akteure und die Gerichte. Abschließend betrachtet Jon Elster noch die Rolle der politischen Parteien während der Phase der Übergangsjustiz.
Da es bislang keine Theorie der Übergangsjustiz gibt, die in die Thematik einleitet, verzichtet Jon Elster bewusst in seinem Werk auf eine Einleitung und einen bewertenden Schlussteil.
Jon Elster liefert mit seinem inhaltlich breit angelegtem Buch "die Akten schließen" eine durch und durch überzeugende Studie des Spannungsfeldes, in dem sich Politik und Moral befinden. Der Autor zeigt durch seine sehr gute fallstudiengeleitete Darstellung der diktaturüberwindenden Länder auf, dass das Verlangen der Opfer nach Gerechtigkeit nicht durch das geltende Recht erfüllt wird. Seine Darstellung bekräftigt, dass die Politik zugunsten von gesellschaftlicher und politischer Stabilität vielfach auf Strafverfolgung verzichtet und die Gerechtigkeitsrufe der Opfer auf der Strecke bleiben. Elsters Buch ermöglicht auch einen Einblick in die Psychologie der Täter. Exemplarisch ist ihm dieses besonders gut an der Aufarbeitung der NS-Zeit gelungen, in dem er deutlich macht, dass die Täter sich weitgehend zu Opfern machen und damit die Übergangsjustiz verlangsamen bzw. blockieren.
Offen - aber als Diskussionspunkt motivierend - bleibt die Frage, ob die politische Stabilität gegenüber der Gerechtigkeit einen höheren Wert einnimmt und wie Politik und Moral in Einklang gebracht werden können?
Auch wenn Jon Elster mit seinem Buch keine Theorie der Übergangsjustiz vorlegt, so ist sein Werk - da es zur kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik anregt - äußerst lesens- und empfehlenswert. Nicht nur für Studierende verschiedener Disziplinen wie der Soziologie, der Philosophie, der Rechtswissenschaften sondern für jeden, der an Fragen der Menschenrechte, der Ethik, des Rechtes interessiert ist.
Jon Elster, Die Akten schliessen. Recht und Gerechtigkeit nach dem Ende von Diktaturen. Campus Verlag (Frankfurt) 2005. 320 Seiten. ISBN 3-593-37885-X. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 52,20 SFr.
Originaltitel: Closing the books. Transitional Justice in Historical Perspective. Übersetzt von Andreas Wirthensohn
© Soraya Levin