Wenn Bewältigungsmechanismen für das Leben und für den Tod nicht mehr ausreichen, kann Kunst hilfreich sein. Zwiesprachen ist ein Gedichtband mit Bildern, der diese Brücke zwischen dem Leben und dem Tod schlägt.
„Ach, ich will, „dass du bleibst“, sagt die Stimme des Gedichts „Verschlossene Frage beantwortet“ in „Zwiesprachen. Gedichte und Malerei“. Doch er ist nicht geblieben. Ihr Bobu, ihr „großes Kind ist gegangen“. Mit gerade einmal 38 Jahren hat sich der Sohn von Hilde Gött aus dieser für ihn nicht mehr lebenswerten Welt in den Suizid geflüchtet.
Eine bittere Flucht, deren schmerzhafte Empfindungen Hilde Gött in Versen ausdrückt. Über das lyrische Ich und das Dialogprinzip ermöglichen die Gedichte eine Begegnung mit ihrem Bobu. Es ist ein tröstender Wortwechsel, an dessen Ende mit dem Gedicht „Abschiedsworte der Lakota-Indianer am Grab“ die zum Einsturz gebrachte Brücke zwischen Leben und Tod als Einheit wieder aufgebaut wird. Denn ihr Bobu ist nicht tot. Er ist jetzt Bestandteil der Lebenszwischenräume wie dem Wasser, dem Wind und ist dadurch wieder mit dem Leben und mit Hilde Gött verbunden.
Nicht loslassen wollen, nicht loslassen können, haltlos und völlig hilflos dieser Situation mit dem toten Kind gegenüberstehen. Verzweifelt sein, sich schuldig fühlen, sich einfach nur nach der Nähe des toten Kindes sehnen. Diese tiefgehende Grenzerfahrung beschreibt Hilde Gött mit dem einleitenden Gedicht „Klagelied“, in dem Leben und Tod ein Paar sind. Die poetische Auseinandersetzung spricht von Schuld. Schuld an der Krankheit der Schizophrenie, Schuld, die Signale des herannahenden Suizids nicht erkannt zu haben. Schuld, die Bobu im Dialog von den Eltern nimmt.
Es geht um die Einheit von Mutter und Kind. Die Bilder und Stimmen aus Kindheitstagen, die immer präsent sind. Die kurzen Verse und die für sich allein stehenden Wörter machen den Fundamentalbruch zwischen Mutter und Kind sichtbar. Die rhetorischen Figuren versuchen die verschütteten Zugänge zu Bobu freizuschaufeln, seine Entfremdung von der Welt, sein schwankendes Inneres, seine inneren Konflikte, seine Ängste zu verstehen.
Metaphern wie „der Tod hat sich am mageren Leben des Sohnes genährt“ sind Symbole für die tiefe Trauer und das Wissen darum, dass es kein Bollwerk gegenüber diesem Tod gibt. Insbesondere die Ausrufe lenken den Blick auf das Hauptmotiv, auf den Suizid des Sohnes und die Leidens- und Trauerphase für die betroffenen Angehörigen. Es sind diese kurzen Sätze wie „Du fehlst mir“, die das Geschehen und die essentielle Folgewirkung der Traurigkeit hervorheben. Wörter wie „überflutet vom Schock“, geladen mit niederdrückendem Gefühlssinn.
Eingesetzte Zeilenbrüche verdeutlichen den Bruch mit dem Kind, das weiterhin beim Spielen oder zu Nikolaus gesehen wird. Die zeichensetzenden Ordnungselemente fehlen weitgehend, denn Ordnung ist im Gefühlsleben von Hilde Gött nicht mehr vorhanden. Wie ist in diesem Chaos die Balance wieder zu finden? In diesem Chaos, wo der Mensch gezwungen ist, das Leben einfach weiter zu führen und dabei ist doch gar nichts mehr zu spüren, außer diese überfrachtete Sehnsucht nach Bobu.
„Dein Wille geschah!“. Das Neue mit seiner selbstzerstörerischen Art nimmt Bezug auf das Altvertraute wie dem „Vaterunser“. Es verdeutlicht den Durchbruch und die Überwindung des seelischen Leidens durch die göttliche Liebe. Gleichzeitig wird die Spannung des Haderns entladen, indem das Schicksal als unausweichlich angenommen werden muss.
Die Poesie dient Hilde Gött als Stütze, mit der tiefen Trauer umzugehen. Auch für ihren Sohn Bobu ist die Kunst ein Mittel gewesen, um sein emotionales Leiden auszudrücken. Seine Bilder, die die Gedichte begleiten, sind Momentaufnahmen seiner bewegten Seelenlandschaften. Sein Krankheitsprozess der Schizophrenie spiegelt sich in seinem Schaffensprozess. Starke Farbkontraste und sichtbare Gegensätze der Spaltung einer Person zwischen Mann und Frau, zwischen Tag und Nacht, zwischen dem Gezerre von Hund und Katze, von Wasser und Feuer weisen auf ein inneres Spannungsfeld und die Zerrissenheit hin.
Bilder mit Herzen, die Sehnsucht nach Liebe und Frieden sichtbar machen. Die Sonne oft ohne Strahlen. Licht gibt es daher, aber es strahlt nicht stark genug aus, um diese verletzte Seele zu wärmen. Verletzt von Kopf bis Fuß, was bildhaft durch die starken Bandagen eines jungen Mannes zum Ausdruck kommt. Eine Verletzung, die ein geradeaus Gehen unmöglich macht, die ihren Weg nicht findet, die aufgrund der Verletzung sich durch die Welt humpelt, deren klares Denken durch die Kopfwunde erschwert ist.
Da ist das Gefühl der Bedrohung unserer Natur. Da sind die tiefsitzenden Zukunftsängste als fast schwarze Wolkenfront am Himmel, die sich im Wasser eines Sees ebenso schwarz widerspiegelt. Da scheint die Welt in schwarze Tinte getränkt. Ein kleines Umfeld Sonne, das den Flussreiher beleuchtet, spricht für ein wenig Hoffnung.
Es sind Durchbrüche zwischen den Farben zu erkennen. Durchbrüche, die eine Suche nach einem Weg bedeuten können. Lichtspuren, die sich sehnen nach einem Lebensweg. Der Himmel ohne gefüllte Elemente und die fehlenden Details im Bild zeigen, da ist nichts auszumachen, da ist keinerlei Zukunftsperspektive. Teilweise schrille Farben und surreale Gesichter, die die Entfremdung von der Wirklichkeit und eine andere Wahrnehmungsdimension zeigen. Der deprimierte Zustand zeigt sich auch an den betrübten Gesichtsausdrücken und selbst die Natur kommt mit dem grimmigen Mond düster daher.
Der Clown als realistisches Konstrukt zwischen der Kunst und der Krankheit, zwischen dem, was so zu sein scheint und dem, was so ist, spiegelt die innere gespaltene Gefühlslage. Den Kontakt nach außen halten, innen aber schwarze Tränen weinen und sich dabei so sehr nach dem inneren Frieden sehnen, dass selbst die Trompetentöne des Clowns zu roten Herzen werden.
Über das Bild mitteilen, dass bereits die Flucht aus dem Leben in der Luft liegt. Da liegt er auf einer Decke aus Blut, das Gesicht ausdruckslos in ein Nichts gerichtet. Hilde Gött schreibt in ihrer Poesie, dass sie immer da war, diese Angst vor der Flucht des Sohnes. Sein Künstlerdasein hat ihn nicht schützen können. Es hat vielmehr als Ventil nach außen gedient und als Mittel zur Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit.
Wenn Bewältigungsmechanismen für das Leben und für den Tod nicht mehr ausreichen, kann Kunst hilfreich sein. Zwiesprachen ist ein Gedichtband mit Bildern, der diese Brücke zwischen dem Leben und dem Tod schlägt.
Zwiesprachen. Gedichte von Hilde Gött & Bildern ihres Sohnes Bobu Gött, Lichtig-Verlag, Berlin 2015, ISBN: 978-3-929905-35-9, 42 Seiten, EUR 14,90
© Soraya Levin