Als sie morgens losgingen, waren sie noch gesund. Ein paar Stunden später verstummte ihr Leben. Ausgehaucht durch einen Killer, der sich „Spanische Grippe“ nannte. Ein Virus, den der Erste Weltkrieg erst zu einem weltweiten Killer machte. Über die bis heute in ihren katastrophalen Ausmaßen einzigartige Pandemie erzählt Manfred Vasold in seinem Buch „Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg.“
Es ist März 1918, die Welt ist seit 1914 im Krieg versunken. In den kriegführenden Ländern hungern die Menschen, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, eine willkommene Plattform für zahlreiche Seuchen. Die geschwächten Immunsysteme nun das Angriffsziel für die Erreger. Neben Tuberkulose und Fleckfieber macht sich aber auch noch eine andere Seuche breit. Eine Seuche, die die Städte und Länder ausblutet, die rücksichtsloser als der Krieg ihre Opfer fordert. Die Grippe. Sie verschlingt – so ganz genau wissen es die Historiker nicht – in etwa 50 Millionen Menschen. Ein totbringender Virus, der von einem Militärlager in den USA, Kansas, dank der Truppenbewegungen seine Weltreise startet und sich über die Grenzen fortpflanzt. Über den Atlantik galoppiert die Grippe von West nach Ost auf das europäische Festland. In Spanien wird jeder Dritte von der Grippe befallen. Als der Spanische König Alfons XIII erkrankt, tauchen erstmals Pressemeldungen über die Seuche auf. Die Grippe, die in den kriegführenden Ländern mit Hilfe der Zensur tabuisiert wird, hat ihren Namen weg. Die Spanische Grippe.
Ein unglaublicher Virusmarathon, der sich in drei Wellen um die Welt bewegt. Frankreich, Deutschland, Dänemark, Schweden, China, Indien, Neuseeland, Australien, Mexiko, Afrika. Allein in Indien schätzungsweise bis zu 150 Millionen Erkrankte und bis zu 18 Millionen Tote. Kein Fleck und kein Körper bleiben von der grippalen Plage verschont. Es sind vor allem die jungen Leute mit guter Kondition, die hinweggerafft werden.
Ist es Gottes Strafe, die da zuschlägt, fragen sich die einen und beten. Die anderen kehren aus Angst wieder zum Aderlaß zurück. Andere empfehlen Heroin, Whiskey oder Strichnin zu nehmen. Schilder drohen „Spucken bedeutet den Tod“. Städte wie Geisterstädte, da die Menschen öffentliche Versammlungen meiden oder vom Straßenbahnfahrer bis zum Arzt selbst erkrankt sind.
Die Grippe wird mit Worten wie Don’t worry!‘ heruntergespielt, während sie weiter zuschlägt und auch Viktor Klemperer trifft. ‚Unterwegs wurde mir sehr übel, es war nicht nur Übermüdung und seelische Depression, sondern eine richtige irgendwo aufgegabelte Grippe mit Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Hitze ... Ich fühlte mich so elend ... Der Krieg ging weiter ...‘. Der Krieg geht zwar weiter, aber der zweite simultan laufende virengeschürte Krieg dezimiert die Heere. 'Bei der
6. Armee hat die Grippe wieder zugenommen. 15000 Mann sind zur Zeit in ärztlicher Behandlung,...Auch bei den anderen Armeen ist die Zahl der Erkrankungen eine sehr hohe...', „‘[ ... ] unser Ablösungsbataillon durch die Spanische Krankheit fast aufgelöst [ ... ]‘, ‚... Dr. Knopf hat mir erzählt, in der Armee gäbe es so viele Fälle von Grippe, daß die Deutschen den Angriff verschieben mußten [ ... ]‘. Die Grippe als ein Moment, das sogar die Fortsetzung des Krieges mit beeinflusst.
Manfred Vasold zeichnet in seinem Buch „Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg“ den Weg einer überaus gefährlichen Waffe nach. Sehr anschaulich stellt Vasold dar, wie ein Grippevirus zur Zeit des Ersten Weltkrieges seine Gegner kalt stellt. Es ist kein Bericht über den Ersten Weltkrieg, sondern Vasold macht anhand von Fakten, Bildern, Zeitungsberichten, Zeitzeugen deutlich, wie schnell sich eine Influenza durch die Mobilität zur Pandemie entwickelt. Eine unvorbereitete Katastrophe, die schlimmer wütet als der Krieg selbst. Nicht mehr der Krieg steht nun im Mittelpunkt, sondern der grippale Feind. Ein Feind, der vor allem für junge Menschen durch eine zu heftige und sich selbst zerstörende Immunabwehr zur Lebensbedrohung wird. Ein Feind, der die Heere ausdünnt und nach Vasold ein vorzeitiges Kriegsende bedingt. Ein weiterer Kriegsbeteiligter, der durch das Verschlingen junger Jahrgänge soziale Verwerfungen nach sich zieht.
Vasolds historische Erzählung ist mehr wie eine Zeitreise. Meldungen dieser Tage wie „Mehr als 1000 Tote in den USA. Obama erklärt Schweinegrippe zum nationalen Notfall“, „Der dritte Todesfall in Deutschland“, „Schweinegrippe: 30.000 Tote befürchtet“ stellen einen aktuellen Bezug zu dem historischen Ereignis dar.
Im Gegensatz zur Spanischen Grippe, wo sich der Killervirus durch Zensur, keine vorhandenen Meldepflichten und keiner vorhandenen Prävention ausbreiten konnte, ist die Welt heute in höchster Alarmbereitschaft. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits die höchste Warnstufe ausgerufen. Massenimpfungen als Waffe gegen die Pandemie. Die sogenannte Schweinegrippe ist zur Zeit jedoch nicht vergleichbar mit der Spanischen Grippe, da sie bislang relativ harmlos verläuft. Was jedoch mit Vasolds zeithistorischer Erzählung durchaus vergleichbar ist, ist die Tatsache der Verunsicherung. Beruhigungspillen und Panikmache in den Medien, unterschiedliche Meldungen über das Grippeausmaß, diverse Expertenmeinungen zur Grippe, diverse Meinungen von Impfgegnern und Impfbefürwortern, Verquickung von Pharmalobbyisten mit der Politik. All das ist kein fruchtbarer Boden für vertrauensbildende Maßnahmen und für eine Bewusstseinsbildung über die Gefahr von aggressiven Viren und Pandemien.
„Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg“ ist ein gut inszeniertes medizinisches Drama, das Faktenwissen mit Erzählen verschränkt.
Manfred Vasold, Die Spanische Grippe, Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Geschichte erzählt, Band 21, 2009 Primus Verlag, Darmstadt, Etwa 144 S. mit ca. 10 Abb., Halbleinen, ISBN 978-3-89678-394-3, EUR 16,90 [D] / sFr 29,90
© Soraya Levin