Stehen Popikonen wie Bob Dylan, dessen Musik auch in dem Roman gehört wird, für gesellschaftliche Veränderung, für den Ausdruck von Gefühlen und für Grenzüberschreitungen, kurz gesagt für einen anderen Rhythmus, so sind die drei Schwestern Hélène, Sabine und Mariette in dem Roman Die Ungeduldigen ebenfalls Symbolfiguren des sich verändernden Rhythmus der 1970er Jahre in Frankreich.
Sich mitreißen lassen von diesem aufbegehrenden Sound erfordert für die drei Schwestern, die in der Provinz in einem katholischen Elternhaus groß werden, sehr viel Mut. Es ist der Mut einer neuen Generation, die Hunger hat nach Liebe, Freiheit und auf ein selbstbestimmtes Leben. Einer Generation, die nicht die muffige Moral der Eltern Bruno und Agnès weitertransportieren möchte. Einer Generation, die gegen die konservative Verstaubtheit der Eltern und ihrer kirchlichen Lebensverordnungen aufbegehrt. Während Hélène ihre Ferienzeiten in einem anderen Kosmos, nämlich dem des reichen Onkels, verbringt, träumt Sabine, die älteste Schwester von den bunten Boulevards in Paris.
Während der Vater Bruno die Musik von Gilbert Bécaud, Die Einsamkeit, die gibt es nicht, spielen lässt, werden die Familienmitglieder immer einsamer. Die zu beschützenden Kinder verselbständigen sich und gehen aus dem Haus. Die Mutter Agnès bleibt am Tag allein zurück. Sabine und Hélène leben jetzt im Dickicht der Metropole Paris, die teilweise auch einsam macht. Es ist ein trotziger Aufbruch in ein vermeintlich blühendes Leben, in dem die Schwestern ihre bedeutendste Schlacht, nämlich die der sexuellen Befreiung führen. Es geht nicht nur darum, erwachsen zu werden. Es geht vor allem um die Emanzipation vom Elternhaus und von der konservativen gesellschaftlichen Moral. Es geht um die Befreiung und den Aufbruch als Frau. Agnès gibt Sabine heimlich die Pille und zwischen Simone de Beauvoir und den Demos gegen die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen ist es vielleicht nicht unbedingt eine sexuelle Revolution, aber mit Sicherheit eine Entsorgung der alten sexuellen Ideale, denn die Schwestern haben Sex ohne verheiratet zu sein, empfinden Lust und diese Lust ist bei Hélène nicht nur auf Männer begrenzt. Sind sie zügellos? Sind sie politisch? Sicher beides in der Betrachtung des Aufruhrs inmitten der Antikriegsdemos, des Feminismus und der 1968er Bewegung. Sie werden und zwar alle drei, ein feministischer Bestandteil, denn sie wollen Liebe ohne Abhängigkeiten. Sie wollen ihre Körperlichkeit erleben und spüren und das nicht nur im Geheimen. Es geht um Zärtlichkeit und um die Veränderung des Frauenbildes.
Mit der Wahl des Sozialisten Mitterrand zum französischen Staatspräsidenten bricht für die Elterngeneration eine Welt zusammen, während sich für die Töchtergeneration eine neue Welt, eine befreite, eine liberale und gerechtere Welt aufbaut. Mit der Wahl von Mitterrand vergrößert sich die Kluft zwischen den beiden Generationen. Während die Eltern die Einschläge der Vergangenheit spüren und nicht von ihnen lassen können, haben sich die Schwestern in ihrem Protest und ihrer Rebellion einen Raum erschlossen und diesem einen Sinn für ihre persönliche Entwicklung gegeben.
Die Trauer, die Sabine wie Tausende andere auch beim Tod von Jean-Paul Satre empfindet, verdeutlicht diese Sinngebung. Denn Satre sagte, dass es jeder selbst in der Hand hat, seinem Leben einen Sinn zu geben.
Es ist gerade diese untermalte Mixtur aus den verschiedenen Perspektiven und Rollen der Familienmitglieder, die diese Unbeschwertheit beim Lesen hervorruft und die einen durch die Kindheit, Pubertät und die Zeit des Aufbegehrens und der sozialen Veränderungen in dem Roman trägt.
Véronique Olmi, Die Ungeduldigen, Roman aus dem Französischen von Claudia Steinitz, die Originalausgabe unter dem Titel Les Évasions particulières erschien 2020 bei Édition Albin Michel, Paris, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2022, 1. Auflage, ISBN 978-3-351-03886-1, Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten, 24 EUR.
© Soraya Levin