Die langen Jahre in dieser Stadt im schönen bulgarischen Talkessel haben ihn nicht heimisch werden lassen. Vielleicht lag es daran, dass er nicht freiwillig über die albanischen Berge hierher geflüchtet ist. Nur die Angst vor der Blutrache hat Adem hier hergespült. Seitdem betreibt er einen Hirsebierladen und sehnt sich nach der Heimat, die für die übrigen Bewohner im Verborgenen bleiben muss.
Auch ihre Ursprungsheimat ist nicht der bulgarische Talkessel. Kriegswirren haben die unfruchtbare Witwe als Kind hier hergebracht. Hier hat sie jung geheiratet, doch bevor sie schwanger wird, fällt ihr Mann im Krieg. Die Schwiegermutter belegt sie mit dem Stempel der Unfruchtbarkeit und jagt sie aus dem Haus. Die vermeintliche Unfruchtbarkeit wird zu einem Hindernis für jede neue Ehe. So bleibt die unfruchtbare Witwe eine Ausgegrenzte, immer am Rand der Gesellschaft wie Adem und vielleicht ist es gerade das, was die beiden zusammenführt. Ihre stille Liebe trägt genau zu der Zeit Früchte, als Adem den bulgarischen Talkessel verlässt. Durch eine Leichtfertigkeit hat er sein Versteck preisgegeben. Das stillschweigende Gesetz des Kanun fordert die Rückkehr in die Heimat, wo die blutige Rache wartet.
Es ist diese kleine städtische Welt nach dem Ersten Weltkrieg im bulgarischen Talkessel, die dem Balkan ihr Gesicht gibt.
Boika Asiowa zeigt anhand dieses Mikrokosmos das zusammengewürfelte Gemisch der Balkanvölker mit ihren Ethnien, Traditionen und Religionen. Die multikulturellen Stadtbewohner repräsentieren die sich ständig wechselnden Herrschaftsansprüche. So treffen wir in Boika Asiowas Stadt Menschen türkischer, russischer und makedonischer Herkunft sowie die muslimische Ethnie der Pomaken. Wie bei einem Gezeitenwechsel vermischen und trennen sich die Ethnien, wechseln sich Freundschaft und Feindschaft ab, werden Moscheen und Kirchen zerstört und wieder aufgebaut, werden Nachbarn vertrieben und kommen nach Jahren wieder, werden die an ihre Heimat Gefesselten zur Konvertierung gezwungen, bis sie wieder ihren alten Glauben annehmen dürfen.
Es sind gerade die Gegensätze zwischen einer berauschenden Natur, winkligen Gassen in entlegenen Bergdörfern, duftenden Basaren und Märkte mit ihrer fremden Klangvielfalt, die städtische Entwicklung zwischen dem Festhalten an alten Traditionen und der Moderne, gemischt mit dem Aberglauben, die das kunterbunte Gemenge des Balkans zeichnen.
Boika Asiowas Figur der unfruchtbaren Witwe und des Albaners Adem drückt aus, dass der Balkan immer wieder eine Zeit des Aufbruchs aber auch des Stillstands ist. Die auf der Tradition beruhenden Wertekanons sind für die Witwe und den Albaner bindend. Als unfruchtbare Frau ist eine neue Ehe für die Witwe aussichtslos. Doch ohne einen Mann an ihrer Seite bleibt sie in dieser patriarchalischen Gesellschaft ohne Bedeutung. Der Albaner Adem ist ein Gefangener der archaischen Kultur des Kanun, die kein Verzeihen zulässt, die ihr traditionelles Recht über das staatliche stellt, wo die Ehre die Würde des Menschen ausmacht und einzig mit über Generationen hinweg fließendem Blut wieder hergestellt werden kann.
Boika Asiowa, Die unfruchtbare Witwe, Roman, Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Яловата вдовиича“, Janet45, 2007, Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann, Herausgegeben von Nellie und Roumen Evert, editionBalkan, Englische Broschur, ca. 330 Seiten, Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2012, 16,80 EUR, ISBN 978-3- 937717-58-6
© Soraya Levin