"Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist ..."
Dies sind die ersten bedrückenden Worte, die der norwegische Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun seinen Ich-Erzähler äußern lässt.
Hunger ist die Geschichte eines jungen Journalisten, der in Kristiania, dem heutigen Oslo, in bescheidenen Verhältnissen lebt. Einen festen Job hat er nicht und seine Artikel werden immer seltener von der Redaktion angenommen. Nach und nach verpfändet er sein Hab und Gut. Seit nunmehr drei Wochen kann er seiner Wirtin die Miete nicht mehr zahlen. Er wird obdachlos. Unverdrossen schreibt er Artikel für Artikel, in der Hoffnung, dass doch noch einer angenommen wird. Zeitweilig klappt es auch und der Ich-Erzähler ist für kurze Zeit gerettet und wieder oben auf. Stopft sich dann voller Freude mit Essen und Trinken voll. Doch das Wenige reicht nicht zum Leben und schon gar nicht zum Überleben. Seine desolate Situation verschärft sich, körperlich und mental entkräftet, ausgehungert bis zum Letzten, kaut er vor Hunger Holzspäne und seinen Jackenstoff, kämpft er in dieser erbarmungswürdigen Situation mit sich selbst, um ja nicht seine Selbstachtung zu verlieren. Trotz des Hungertods vor Augen akzeptiert er es nicht, dass gerade er so tief gefallen sein soll. Er, der alles versucht hat, keine Arbeit gescheut hat, stets fleißig und bescheiden war. Er schämt sich und leugnet vehement seine Armut, immer in der Hoffnung, sich doch noch aus seiner ausweglosen Situation befreien zu können. Begleitet von starken Stimmungsschwankungen, die zwischen Wut und Depression hin und herpendeln, verhält er sich immer anormaler, übermannt ihn eine Schreibblockade nach der anderen. Er beginnt zu betteln, zu lügen und verachtet und bestraft sich dafür selbst. Um seinem scheinbar aussichtslosen Schicksal zu entkommen, heuert er auf der russischen Copégoro nach Leeds an.
Wie ist es, wenn man Armut als eine Schande empfindet? Knut Hamsun zeigt das gedemütigte und beschämende Gefühl an dem Verfall seines Ich-Erzählers. Ein Ich-Erzähler, dessen Konturen zwischen seinem Hungerwahn und der Wirklichkeit immer stärker verwischen, der sich gedemütigt und ausgegrenzt fühlt. Und er will doch kein Ausgegrenzter sein. Deshalb leugnet er stoisch die Realität seiner Armut und seines Hungerns. Sein Verhalten nimmt groteske Züge an. Mental und körperlich entkräftet und den Tod schon vor Augen, hält er weiterhin verbissen vor der Gesellschaft still, hegt weiterhin eine aussichtslose Hoffnung auf ein Wunder, eine Wende zum Besseren. Ein aussichtsloser Blick auf die Gegenwart, die Hamsuns Ich-Erzähler durch seine Brille hat. Er ist bereit die Brille zu verpfänden, den Blick noch weiter zu trüben. Resigniert lässt Hamsun seinen Ich-Erzähler, von dem der Leser bis zum Schluss den Namen nicht kennt, auf einem Schiff Richtung Leeds anheuern. Leeds, eine Stadt ohne Hafen, eine Reise ohne Ziel und wieder eine aussichtslose Zukunft.
Knut Hamsun zeigt mit seinem Roman Hunger auf bedrückende und erlesene Weise die seelische Extremsituation eines Menschen, gefangen in einer beklemmenden Armutsfalle. Hunger, eine zeitlose exzellente Prosa der Moderne.
Knut Hamsun, Hunger, Roman, Die Originalausgabe erschien 1890 unter dem Titel Sult, Übersetzung: Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel, Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, 240 Seiten, Gebunden , claassen Verlag, Berlin im Mai 2009, € 19,90 [D], € 20,50 [A], sFr 35,90, ISBN-978-3-546-00449-7
© Soraya Levin