Was kann sie retten, diese drei Generationen, die am Scheideweg der Abschiede und Aufbrüche stehen?
Das Leben der fast 80 Jahre alten Chemda verflüchtigt sich gerade in einem Bett in Jerusalem. Ihr verwelkter Körper fährt im Zeitraffer nochmals die Piste ihres Lebens hinunter. Jetzt ist sie wieder das Kind im Kibbuz. Es ist kein unbeschwertes Aufwachsen in dieser fordernden Gemeinschaft. Im Kinderhaus entfremdet von der elterlichen Fürsorge sehnt sie sich nach der Liebe ihrer Eltern. Eine Liebe, die die zwischen New York und Jerusalem hin und her pendelnde Mutter nicht geben kann. Und ihr Vater, ein wahrer Pionier, erwartet von ihr Mut und Tapferkeit. Doch Chemda ist verträumt und je mehr sie sich in ihre Fantasie flüchtet, desto mehr Härte fordert ihr Vater ein.
Mit den Jahren entfernt sie sich immer mehr von ihren Gefühlen. Sie verliebt sich nicht, sie heiratet einfach nur. Ihr Job und ihre Ehe sind leer. Die Loslösung vom Kibbuz eröffnet keine neuen Wege, sondern schafft neue Probleme, an denen ihr Mann zerbricht. Chemda bleibt mit ihren zwei Kindern, Dina und Avner, allein zurück.
Die Geschwister kämpfen um die Liebe der Mutter. Während Dina nach mehr Liebe verlangt, fühlt sich Avner von der mütterlichen Liebe erdrückt.
Jahre später hat Avner selbst eine Familie. Seine Ehe ist seit langer Zeit ein Trugbild. Da ist nichts mehr, was ihn mit seiner Frau verbindet. Ihre Liebe hat sich verflüchtigt, hat sich Jahr um Jahr abgekühlt und ist zu Hass geworden. Inmitten dieser Trümmer sehnt er sich nach Zuneigung.
Soll das sein Leben sein? Seine Zerrissenheit macht ihn zu einem Gehetzten. Auf der Suche nach Liebe hechelt er der Geliebten eines ihm unbekannten todkranken Mannes hinterher.
Während Avner aus seinem bisherigen Leben flüchtet, befreit sich Dinas 15-jährigeTochter aus der Umklammerung der Mutter. Die Loslösung der Tochter stürzt Dina in eine tiefe Krise. Sie fühlt sich nicht mehr gebraucht. Sie will doch nur Mutter sein. Ihr Mann kann diese Leere nicht füllen. Ihre Selbstzerstörung kann nur mit einem weiteren Kind aufgehalten werden. Dafür ist sie bereit, ihre Ehe zu opfern.
Zeruya Shalev erzählt in Parallelsträngen die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen, die alle eins gemeinsam haben: die Suche nach Liebe. Eingebettet in diese Suche ist der schwierige Beginn im neuen Staat Israel und die Auswirkung des Holocaust auf die abverlangte Gefühlswelt des neuen, des gegensätzlichen Diasporajuden. Eine Gefühlswelt, deren Wucht Chemda im Kibbuz zu spüren bekommt, deren Wucht ihren Umgang mit ihren Kindern bestimmt.
Erst die Konfrontation mit Chemdas nahendem Tod zerrt das trügerische Innenleben und die Konflikte der Familienmitglieder nach außen. Ein Chaos der Gefühle, das da plötzlich diese Angst und Verwirrung mit sich bringt. Ist es die richtige Richtung, in die sie gehen?
Ist dieser Weg tatsächlich für den Rest ihres Lebens ihr Weg? Ihr bisheriges Leben hat Sprünge bekommen und zerbricht mit einem mal.
Geschickt lenkt Zeruya Shalev immer wieder den Blick auf den Pol der Familie, auf Chemda, deren nahender Tod nicht nur der Ausgangspunkt der Ablösungsprozesse ist, sondern die entrückte Familie wieder verbindet.
Während Chemda sich vor dem Lebensende in ihre Vergangenheit flüchtet und die Kindheitserlebnisse aufleben lässt, fliehen Avner und Dina aus ihrem bisherigen Leben und lassen, angekommen in der Mitte des Lebens, ihre verdrängten Sehnsüchte erwachen. Sie haben die Chance die Weichen ihres zukünftigen Lebensabschnitts anders zu stellen und diese Chance der Veränderung nutzen sie. Für Chemda ist es zu spät. Ihr Lebensabschnitt endet im Tod.
Zeruya Shalev, Für den Rest des Lebens, Roman, Gebunden, die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Sche’arit Hachajim bei Keter Verlag, Jerusalem, Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, 528 Seiten, 2012 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin, 22,90 € [D] | 23,60 € [A], ISBN-13: 9783827009890
© Soraya Levin