Er gibt ihnen Hoffnung auf ein neues Leben. Eyal Meggeds Ich-Erzähler ist Chirurg der Transplantationsmedizin in Tel Aviv. Ein kantiger Typ, der eigentlich im OP stehen sollte. Stattdessen hat ihn die Klinik aufgrund von Streitigkeiten mit dem Chefarzt kurzerhand kaltgestellt. Was ist nun anzufangen mit diesem unfreiwilligen Raum aus dem geklammerten Alltag? Er füllt ihn mit einem Prozess des Nachdenkens über die letzte Reise seines Freundes Boas. Eine Reise, die den Ich-Erzähler seinen ausgetretenen Weg verlassen lässt. Die ihn zwingt, sich mit seinem eigenen Leben zu beschäftigen.
Gerade als die beiden Freunde sich nach langer Zeit wieder näher gekommen sind, erkrankt Boas unheilbar an Krebs. Boas Vorbereitung auf seinen Tod hat jedoch nichts Verzweifeltes an sich. Ganz im Gegenteil. Der Ich-Erzähler sucht nach Antworten für diesen Optimismus. Er beginnt Fragen zu stellen, die eigentlich ihn selbst betreffen. Was bedeutet der Tod? Ist es die Angst vor dem großen Unbekannten und dem Nichts? Ist es nicht besser, ihn zu leugnen? Als Chirurg kann er die Überlebenschancen seiner Patienten sehr gut einschätzen. Den Schönredereien seiner Kollegen gegenüber den Patienten und den Angehörigen steht er ebenso ablehnend gegenüber wie den Hilfegesuchen an Gott. Doch bei Boas verhält er sich wie im Roman „Krebsstation“ von Alexander Solschenizyn, den er nach Jahren wieder hervorkramt. Die Diagnosen werden von den Ärzten verschwiegen und die Patienten hoffen auf ein Wunder. Auch er verliert bei seinem Freund den Mut, die totbringende Diagnose zu überbringen. Auch Boas hofft auf ein Wunder und will plötzlich in Jerusalem beten. In Jerusalem ist Gott so nah. Für den rationalen Ich- Erzähler ist dieses Vertrauen in Gott kein Weg zur Heilung. Als es Boas jedoch besser geht, kommen ihm Zweifel. Jetzt bewegt er sich selbst zwischen Glaube und Rationalität. Immer wieder zieht es ihn in die Altstadt und die ultra-orthodoxen Viertel. Als ob hier die Antwort für seine Entfremdung von der wirklichen Welt liegt. Einer Welt, die mit der fremden Welt des OP-Saals so gar nichts zu tun hat. Er fühlt sich leer und gescheitert. Gescheitert in seiner Liebe zu den Menschen. Zwei Beziehungen, zwei Ehen und in keiner hat er Glück gespürt. In keiner einen Ausweg aus seiner Einsamkeit gefunden. Seine Lebensängste und Sinnsuche hat er mit Affären und Stunden im OP-Saal kompensiert. Für seine mittlerweile erwachsenen Kinder ist er heute ein Fremder. Und für ihn bleibt ohne seine Kinder nur die Leere des Lebens. Sein bisheriges Familienleben wirft die Fragen nach verpassten Chancen, nicht gegebener Liebe, Ängsten und dem Sicherheitsbedürfnis des Menschen auf. Vielleicht ist er deswegen aus Kalifornien nach Israel zurückgekehrt. Vielleicht sucht er hier die hebräische Liebe zu Gott, die Freiheit und ewiges Leben bedeutet. Israel als sicherer Hafen, der das Sein verständlich macht.
Bei Boas sind die Empfindungen ganz anders gewesen. Er hat seinem Leben durch sich selbst Sinn gegeben. Der Ich-Erzähler bezeichnet seinen Freund als „Yogi des Krebses“, denn die Lebensfreude ist bei Boas im Anblick seines Todes nicht verschwunden. Für ihn bilden Licht und Schatten eine Einheit. Boas Verhältnis zum Leben findet Ausdruck in seiner Lieblingsliteratur „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Der Ich-Erzähler erkennt in dem Protagonisten Hans Castorp Boas Alter-Ego. Ein klarer Hinweis darauf, dass für Boas Leben und Tod eine Einheit bilden und dass gerade die Beschäftigung mit dem Tod das Leben bejaht und es in den Fokus rückt.
Da ist sie wieder, diese Einheit von Leben und Tod, als der Ich-Erzähler Boas Witwe besucht. Eine Einheit, die er in dem Bild „Opferung und Abnahme“ entdeckt. Es ist die symbolische Opferung Isaaks im Gewand des Kreuzestodes Christi. „Die Abnahme vom Kreuz sei die Bereitschaft zu sterben, oder das Ende des Lebens und die Opferung Isaaks sei die Bereitschaft, trotz des Todes zu leben.“.
Dem Ich-Erzähler scheint es, als erkenne er Boas im Leib Christi und sich selbst im Vater Isaaks. Dieses Bild ist mit seiner Sinngebung des Todes auch ein Zeichen der Wirklichkeit des Ich-Erzählers. Eine Wirklichkeit, die sagt „Das Licht kommt nach der Finsternis.“. Eine Wirklichkeit, in der der tote Freund den Ich-Erzähler aus seinem finsteren von Schwermut geprägten Vakuum herauszieht. Eine Wirklichkeit, wo der Tod des Freundes die Leere des Lebens des Ich-Erzählers füllt.
Bereits sein Gang durch die judäische Wüste steht hierfür sinnbildlich. Denn diese scheinbare leblose Ödnis, die auch sein eigenes Inneres betrifft, füllt sich plötzlich mit atemberaubenden Leben. Daneben der Gedanke an die Liebe Boas zu Tel Aviv, dass das bejahende Leben verkörpert.
Eyal Meggeds Ich-Erzähler ist ein Spiegelbild der menschlichen Ängste vor dem Hintergrund der ständigen Todesdrohung. Es ist gerade die Abwesenheit des lebenden Freundes, die den Ich-Erzähler die große Sinnfrage an das Leben stellen lässt. In dem er Boas Geschichte erzählt, trägt er seine Trauer nach außen. Boas und der Ich-Erzähler stehen in ihrer besonderen charakterlichen Gegensätzlichkeit stellvertretend für das Leben und den Tod, für Licht und für Schatten als Einheit.
Das Erinnern an Boas hält den Zerfall und das Verrinnen des irdischen Daseins auf. Für den Ich-Erzähler ist klar: Schopenhauer hat sich geirrt. Es geht nicht um die Sinnlosigkeit des Lebens, weil es Wille ist, sondern um „den Unwillen zu sterben.“, das heißt schlichtweg, es geht darum, zu leben.
Eyal Megged ist fähig, die zentralen Fragen an unser Leben in einem starken Roman über Freundschaft, Trauer und dem Wunsch nach Leben zu fassen. Ein tiefgründiges Buch mit viel Substanz.
Eyal Megged, Unter den Lebenden, Roman, Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Sof Haguf bei Miskal-Yediot Ahronot books, Tel Aviv, Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2015, 352 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-8270-1242-5, € 19,99 [D], € 20,60 [A], sFr 26,90
© Soraya Levin