Beabsichtigt Perlman mit seinem Buch Tonspuren einen Roman über den Holocaust zu schreiben, warum belässt er es dann nicht dabei? Warum verknüpft er den Holocaust mit der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung? Bestandteil der beiden historischen Ereignisse sind die Begriffe „Rasse“, Diskriminierung und Willkür. Beide Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist unsere Verantwortung. Beide Ereignisse in einer Geschichte zu verzahnen, ist hingegen recht verstörend und nicht passend.
Damit sollen die Gewalt- und Unterdrückungsprozesse gegen die Afro-Amerikaner nicht kleingeredet werden. Die Verbrechen bleiben Verbrechen, das Unmenschliche bleibt Unmenschliches. Die Vernichtung der europäischen Juden ist aber nach Raul Hilberg ein administrativer Prozess gewesen, d. h. ein gezielter Verwaltungsmassenmord. Eine Analogie dieses gewalttätigen und mörderischen Vorgehens ist in der Geschichte, trotz vieler unvorstellbarer anderer Grausamkeiten, nicht auffindbar.
„Sagt allen, was hier geschehen ist“. Hier sind fast alle ausgelöscht. Aber wenn nur einer überlebt, kann er es weitererzählen. Wie bereits der Titel Tonspuren es sagt, hinterlassen die Töne ihre Spuren für die Welt. Perlman blickt in seiner komplexen Geschichte auf die African-Americans und auf die Opfer des Holocausts. Unbemerkt von der Öffentlichkeit verstauben die erschütternden Berichte der Überlebenden der Shoah auf Bändern in den Archiven. Perlmans Figur Adam Zignelik, jüdischer Geschichtsprofessor, entdeckt diese begrabenen Stimmen zufällig in einem ganz anderen Zusammenhang. Hier taucht sie auf, die Verknüpfung mit den African-Americans. Denn Zignelik untersucht, ob farbige US- Soldaten während des Zweiten Weltkrieges an der Befreiung des KZs Dachau mitgewirkt haben. Was er auf den Tonspuren findet, sind erschütternde Berichte überlebender Ghetto- und KZ-Insassen. Aufgenommen nach dem Krieg von Chaim Border, der von den geretteten Stimmen über die Ermordung seiner Frau Rosa im KZ erfährt. Gleichzeitig gibt Perlman dem Holocaust durch das Einzelschicksal seiner Figur Mandelbrot eine Gestalt. Der in Krakau geborene Jude landet im Vernichtungslager Auschwitz. Er ist im Sonderkommando eingeteilt, muss Alte, Kranke, Männer, Frauen und Kinder mit in den Tod treiben, sieht ihren Todeskampf mit an, sieht die Nazis sich mörderisch austoben, steht vor den aufgetürmten Leichen, buddelt, scharrt, verbrennt alles Menschliche, es bleibt keine Zeit um Abschied zu nehmen, die Öfen brennen und brennen, er steht vor den Alltäglichkeiten wie den Resten von Kleidung, dort ein Brief, ein Ehering, ein Foto, er wagt zu rebellieren und überlebt nur durch Zufall. Durch Zufall begegnet er im hohen Alter schwer an Krebs erkrankt im Krankenhaus von Manhattan dem farbigen Exhäftling Lamont, der dort an einem Resozialisierungsprojekt teilnimmt. Ihm erzählt er seine Geschichte.
Lamont und der Freund von Adam Zignelik, Charles, symbolisieren die Situation der African-Americans. Während Lamont die gesellschaftlichen Schranken nicht überspringen konnte und im Gefängnis landet, schafft der farbige Charles es zum Professor. Die historische Grundlage für seine akademische Laufbahn haben sein Vater William und Adams Vater als Bürgerrechtsaktivisten mit gelegt. Nämlich die Brown versus Board of Education Fälle, die an den staatlichen Bildungseinrichtungen in den USA die Rassentrennung aufhoben.
Der Kampf um die Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß hält trotz der Gesetzgebung weiter an. In Rückblenden schickt Perlman den Leser in den offenen „Rassenkonflikt“, lässt er ihn mit einem farbigen Mädchen auf dem Weg zur Schule mit zittern, stellt er den Leser einem wilden mörderischen Mob gegenüber.
Ein ebenso wilder mörderischer Mob findet sich auch nach Kriegsende in der polnischen Stadt Kielce wieder. Jüdische Überlebende des Holocausts werden gelyncht.
Hier lebt der Hass weiter, hier wird ein Lager der Displaced Persons wieder von Deutscher Polizei gestürmt.
An der Universität von Columbia finden sich antisemitische und rassistische Schmierereien. Und das ist heute.
„Das Verschwinden zu retten“. Das Verschwinden an die Erinnerung. Den Opfern eine Stimme geben. Perlman lässt seine Protagonisten zum Teil der Oral History werden. Seine umfassende Quellenangabe weist auf intensive Recherchen zum Holocaust und zur afro- amerikanischen Bürgerrechtsbewegung hin.
Es ist eine komplexe Geschichte über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Ausgrenzung und über die Liebe. Eine Geschichte, die an unterschiedlichen Orten wie Polen, USA und Australien spielt, eine Geschichte, die während des Zweiten Weltkriegs sowie in den 1960er Jahren und heute spielt. Es ist eine Geschichte, in der Perlman jede seiner Figuren in Beziehung zu einander setzt. Dadurch verwischen die spezifischen Charakteristika der Personen oftmals und bleiben mitunter leer. Die Figuren, die die Geschichte erzählen sollten, werden stattdessen überwiegend von der Geschichte getragen. Nur am Anfang, da zeichnet Perlman seine Figur Lamont auf eine ganz besondere emotionale Art, die wahres Kopfkino auslöst. Lamont befindet sich in einem Gewissenskonflikt. Während einer Busfahrt pöbelt ein Fahrgast herum. Die Situation droht zu eskalieren. Die Fahrgäste – mit Ausnahme von Lamont und dem Fahrer – ausnahmslos Frauen. Lamont will sich einmischen. Im Weg stehen ihm seine Bewährung und die Suche nach seiner Tochter.
Tonspuren ist ein Roman mit vielen Perspektivwechseln und Zeitsprüngen. Er ist spürbar in zu großen Zügen dargestellt und vermischt politisch-historische Ereignisse, die eindeutig voneinander abzugrenzen sind. Trotz dieser Achillesferse erzählt der Roman eine Geschichte mit Tiefgang.
Wenn die Erinnerung totgeschwiegen wird, geht sie aus. Dagegen setzt der Roman Tonspuren ein hörbares Signal, das sich zu lesen lohnt.
Elliot Perlman, Tonspuren, Roman, Originaltitel: The Street Sweeper, Aus dem Englischen von Grete Osterwald, gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 704 Seiten, 2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, ISBN 978-3-421-04373-3, € 24,99 [D] | € 25,70 [A] | CHF 35,50
© Soraya Levin