Wer in Singapur strandet, landet in einer modernen pulsierenden Metropole. Es ist eine blühende und leuchtende Glitzerwelt, die durch einen kapitalistischen Pulsschlag angetrieben wird. Es ist der Pulsschlag, der auch Farrells Kautschukhändler Blackett und Webb antreibt. Zwei britische Geschäftsleute inmitten der kolonialen Gründerzeit des Jahres 1937.
Es ist nicht die Gründungsgeschichte des Stadtstaates Singapur durch Sir Stamford Raffles, die Farrell hier beschreibt. Nein, in diesem auf jeder Seite spürbaren feucht- heißem Schmelztiegel verschiedener Kulturen geht es um eine knallharte Kapitalismuskritik und um die Frage, inwieweit sich die kapitalistische Gier mit moralischen Werten vereinbaren lässt.
Genau für diese Frage und den Versuch ihrer Beantwortung stehen die beiden Handelsfamilien, die mit Hilfe des kolonialen Standortes Singapur ihren Reichtum zu Lasten der ächzenden Armen mehren. Es sind die burmesischen Bauern, deren Existenz von dem großen gierigen Monster namens Gewinnmaximierung um jeden Preis verschlungen wird. Es sind die vor Krieg und Armut geflüchteten Chinesen, die Inder und die Malaien, die sich als billige Arbeitskräfte für das Handelsimperium Blackett & Webb verdingen.
Farrells Familie Blackett steht stellvertretend für den Kapitalismus. Der nach dem Tod des alten Teilhabers Webb nach Singapur zurückgekehrte Sohn Matthew hat die Rolle des Antagonisten. Matthew, der jahrelang für den Völkerbund gearbeitet hat, verkörpert eine pazifistisch-kommunistische Grundhaltung. Der geschäftliche Pragmatismus von Walter Blackett fehlt ihm komplett. Ein Pragmatismus, der für das Überleben der gediegenen Handelsfamilien notwendig ist und der ein standesgemäßes Verhalten erzwingt. Hier wird nur entsprechend des eigenen kulturellen Standes und des Geldbeutels geheiratet. Der enge Kontakt mit der nicht aus dem westlichen Kulturraum stammenden Bevölkerung wird nicht geduldet. Nicht mal der von Walter Blacketts Sohn Monty für eine Party engagierte Fakir wird von der Partygesellschaft gebilligt. Was nicht heißt, dass sich Walters Sohn Monty sowie die anderen Europäer nicht in den Bordellen mit asiatischen Mädchen und Frauen vergnügen dürfen. Farrell gelingt es an dieser Stelle mit seiner Detailbeschreibung der billigen Hinterzimmer auf das Problem der menschlichen Handelsware und der Kinderprostitution einzugehen. Derweil die männlichen Kunden schwitzend und alkoholisiert gierig nach der Ware lechzen, warten Kinder und Frauen auf ihre Auswahl. Ein Handel, der zum alltäglichen Selbstverständnis mutiert, denn während die Männer sich noch nicht entscheiden können und die Ware betrachten, erledigen die Kinder ihre Schularbeiten und die Frauen stricken. Während die Armut sich in den billigen Hinterzimmern verkaufen muss, feiert das koloniale Volk glamouröse Partys, wo nicht nur der Champagner in die Gläser fließt, sondern auch in die Gesichter der Verehrer der exzentrischen Tochter Joan Blackett.
Joan ist die Verkörperung der kolonialen Arroganz, die ständig auf die sozialen und kulturellen Klüfte verweist. Ihr Verhalten gegenüber ihren Liebhabern und Menschen unter ihrem Stand ist hochmütig und herablassend. Selbst ein amerikanischer Captain wie James Ehrendorf ist für Joan nicht gut genug und wird für sie zum verachtenswerten Spielzeug. Sie hat den Pragmatismus ihres Vaters geerbt, agiert eiskalt und betrachtet selbst ihr Liebesleben und die Ehe als Geschäft.
Ein Geschäft, bei dem sie sich den Sohn und Erben des verstorbenen Webb, Matthew, angeln will. Doch Farrell schiebt seine Figur Vera Chiang dazwischen. Eine Halbchinesin, die vor den Japanern geflüchtet ist. Zwischen Vera und Matthew entwickelt sich eine Liebe, die den Interessen von Joan zuwider läuft. Letztendlich schnappt sich Joan jedoch den Sohn des verstorbenen Chefs der Konkurrenzfirma von Blackett & Webb und bleibt so weiter im Geschäft.
Erfolgreiche Geschäfte versprechen und sichern den Wohlstand. Daher liegt es auch ganz im Charakter von Mr. Blackett begründet, dass er seinen Leitspruch des geplanten Firmenjubiläums auch „Beständigkeit im Wohlstand“ nennt. Farrell zeichnet Walter Blackett als ideologisch ausgerichtete Kolonialfigur, die davon ausgeht, dass die westliche Überlegenheit nicht nur den Herrschaftsanspruch legitimiert, sondern auch für die Entwicklung der Zivilisation und für die Blütezeit Singapurs gesorgt hat. Die sozialen Verwerfungen und die bereits in anderen Landesteilen brodelnde Bevölkerung wird daher als Bedrohung des beständigen Wohlstandes wahrgenommen.
Doch die noch größere Bedrohung rückt Anfang 1942 mit den japanischen Streitkräften heran. Jetzt toben sich auf dem einstigen Handelsplatz Singapur die Alliierten und die Japaner aus. Die alliierten Kräfte erweisen sich jedoch als zu schwach, um die Japaner zurückzuschlagen. Farrell beschreibt die Gedanken der Generäle, die um die Rettung Singapurs, um die richtige Strategie, um die Aussichtslosigkeit und die Hilflosigkeit kreisen, sehr detailliert. Er versetzt den Leser auch in die Gedankenwelt eines einfachen japanischen Rekruten, der nicht auf dem Schlachtfeld sein möchte, dem aber beigebracht worden ist, sein Leben für den Kaiser und Japan zu opfern. Unweigerlich taucht da beim Lesen das Bild der Kamikaze-Piloten auf, die diese absolute Sinnlosigkeit des Krieges verdeutlichen.
Die Stadt Singapur versinkt im Bombenhagel. Die Stadt ist bald nicht wieder zuerkennen. Schwere Brände fressen sich durch die spartanischen Behausungen der Bevölkerung. Die ersten Toten sind unter der einfachen Bevölkerung und unter den Flüchtlingen zu beklagen, da sie keinen geeigneten Schutzraum finden. Die Stadt wirkt wie Hefeteig, der über den Rand quillt. Im Zuge der japanischen Invasion strömen immer mehr Flüchtlinge in die Stadt. Während die Versorgung der Stadt zusammenbricht und Epidemien auszubrechen drohen, ziehen inmitten des Chaos Leute marodierend durch die Gegend.
Die europäische Welt in Singapur ist zusammengebrochen. Wer kann, versucht die Stadt per Schiff zu verlassen. Nur Walter Blackett weigert sich, die Realität anzuerkennen und zu sehen, dass seine mit Kautschuk gefüllten Lagerhäuser endgültig verloren sind. Inmitten des kriegerischen Terrors sucht er verzweifelt nach seinem ehemaligen Singapur und hegt sogar die Hoffnung, mit den Japanern nach dem Krieg Geschäfte zu machen.
Während die Japaner Singapur einnehmen und etliche Chinesen von den Japanern hingerichtet werden, gerät Matthew in die Kriegsgefangenschaft. Und was ist mit Vera, denkt der Leser. Farrell lässt sie leben und Matthew es wissen. Diese Liebe scheint also noch eine Zukunft zu haben.
An dieser Stelle könnte der Leser denken, dass Farrells Geschichte zu Ende ist. Ist sie aber nicht, denn sie macht einen Sprung in das Jahr 1976 zum Frühstückstisch der jüngsten Tochter von Walter Blackett, Kate. Ihr Mann - vielleicht der honorable Ehrendorf - liest die Times mit der Titelzeile ‚Plantagenarbeit für weniger als einen Dollar am Tag‘.
Die Träume von Matthew, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, haben sich auch nach dem Krieg nicht realisiert. Die Strukturen sind geblieben, die Leute ziehen für billiges Geld der Arbeit hinterher und versinken weiterhin in Armut. Farrells Sprung in das Jahr 1976 macht eines sichtbar: Die Erlangung der Unabhängigkeit reicht nicht aus, wenn sich wie bei George Orwells Farm der Tiere lediglich die Gesichter der Herrschenden wandeln.
Hier wird die im Roman von Matthew gesuchte Bedeutung des Würgegriffs, der Singapur die Atemluft raubt, deutlich. Farrells „Singapur im Würgegriff“ ist wie eine kapitalistische Riesenboa, die sich um die Stadt Singapur und ihre Bürger herumschlingt und die vorherrschende Kultur und die Traditionen verschlingt.
Farrell brilliert mit ausdrucksstarken Bildern, die den Leser mit hineinziehen in das tropisch-heiße Singapur der 1930er und 1940er Jahre. Es ist keine Historienbeschreibung, sondern die Figuren sprechen und leben die Ereignisse und die gesellschaftlichen Strukturen. Die in Singapur gestrandeten sind geldgierige Kaufleute, überzeugte Kolonialisten, Wanderarbeiter, Flüchtlinge aus Russland und dem asiatischen Raum, Diplomaten, Soldaten und Leute, die einfach hier geblieben sind. Zwischen dem Kolonialismus und dem Zweiten Weltkrieg schiebt Farrell jedoch seine harsche Kapitalismuskritik, die sich an ein gesellschaftliches System richtet, wo einzig die Gewinnmaximierung im Fokus steht, ein System, das Menschen in ihren sozialen und kulturellen Räumen verschlingt und sie wie Zitronen auspresst, ein System, was die soziale Frage durch und mit seinen Machtstrukturen erst schafft. Ein System, was auch den Krieg dauerhaft durch gleiche Herrschaftsstrukturen überlebt.
Es lohnt sich auf jeden Fall in diese beeindruckende schwül-heiße Dichte von über 800 Seiten des einstigen Singapurs einzutauchen.
James Gordon Farrell, Singapur im Würgegriff, Roman, Aus dem Englischen von Manfred Allié, Mit einem Nachwort von Derek Mahon, Matthes & Seitz Berlin 2017, 828 Seiten, ISBN: 978-3-95757-251-6, EURO 30,00
© Soraya Levin