Shanghai, das Tor zur Welt. Bis August 1939 das letzte offene Tor für tausende von Juden auf der Flucht vor den Nazis. Angel Wagenstein schildert in seinem Buch Leb wohl, Shanghai die langen Schatten dieses Dorados am ostchinesischen Meer.
Es ist ein sehr langer Schatten, der sich am Abend des 09.11.1938 über den Konzertmeister Theodor Weisberg legt. In der Berliner Philharmonie spielt sein Orchester Haydns Abschiedssymphonie. Noch ahnen die jüdischen Musiker nicht, dass es sich um einen tatsächlichen Abschied handelt. Die Orchestermitglieder werden in dieser Reichspogromnacht einer nach dem anderen verhaftet. Theodor Weisberg wird in das KZ Dachau verschleppt. Seine Frau Elisabeth, Sopransängerin und Nichtjüdin, wagt sich bis an höchste SS-Stellen, um ihren Mann frei zu bekommen. Der Preis, nicht nur ihr Schmuck sondern auch ihr Körper. Elisabeth gelingt es den zögernden Theodor zur Flucht aus Deutschland zu überreden. Doch weltweit halten die Nationen ihre Türen für die Flüchtenden geschlossen. Ihr einziges Fluchttor, Shanghai. Mit der Conte Rosso verlassen die Weisbergs, durch die Nazis ausgeplündert, mittellos und in wahrlich letzte Sekunde ihre Heimat. Shanghai, das Tor zur Freiheit ist auch ein Tor ins Elend. Die Menschen überwiegend bettelarm, verelendet und ausgehungert. Ein Leiden, das vor keinem Halt macht, nicht vor der einheimischen Bevölkerung, nicht vor den Flüchtlingen. Ein Leben in Baracken, auf engstem Raum zwischen den Ratten die Menschenmassen, keine Toiletten, kein Wasser, keine Hygiene. Krankheiten verstärken noch die Katastrophe. Wer essen will, muss sich irgendwie verdingen. Klauen, sich prostituieren, sich für wenig Geld bei den Kolonialherren oder den reichen Bagdadjuden erniedrigen. Dazwischen die Überfälle der chinesischen Faschisten.
Für die deutschsprachige jüdische Bevölkerung verschlechtert sich die eh schon katastrophale Situation mit dem Dreimächteabkommen. Das Dritte Reich, neuer Verbündeter der japanischen Besatzer, fordert ein jüdisches Ghetto. Zum Ghetto von Shanghai wird der Stadtteil Hongkou erklärt. Trotz der widrigen Umstände gelingt es der jüdischen Community ein bisschen Leben zu organisieren. Andachten werden gehalten und selbst Weisberg musiziert mit seinem Orchester. Manch einer taucht ab aus dieser Hölle und taucht ab ins Opium und manch einer in den Selbstmord. So auch Elisabeth Weisberg, für die auf Dauer dieses Elend nicht mehr ertragbar ist.
Auch für Hilde Braun wird Shanghai zur Hölle. Hilde ist Schauspielerin. Als Ideal der Nazis, blond und blauäugig erhält sie eine Statistenrolle in Leni Riefenstahls Film „Fest der Schönheit“. Eine perfekte Tarnung für die Jüdin. Für Fotoaufnahmen reist sie nach Paris und entschließt sich dort zu bleiben. Sie taucht bei einem gewissen Vladeck unter. Doch ihr Versteck fliegt auf als Vladeck verhaftet wird. Sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, tanzt in einem Musicaltheater und freundet sich mit dem aus Ungarn geflohenen Klavierspieler dem „Ungarn“ an. Paris wird für Flüchtlinge
und Untergetauchte immer gefährlicher. Die Bekanntschaft zum japanischen Arzt Dr. Okura zahlt sich für Hilde aus. Mit der japanischen Mobilmachung verlässt Dr. Okura Paris und schenkt Hilde zum Abschied eine teure Perlenkette. Mit dem Ungarn macht sie diese zu Geld. Beide fliehen nach Shanghai. Während der Überfahrt lernt Hilde die Frau des deutschen Botschafters in Shanghai kennen. Hilde bekommt in der deutschen Botschaft einen Job als Sekretärin. Unverhofft trifft sie Vladeck wieder und beginnt für ihn geheime Botschaftsdokumente zu filmen. Doch ihre Spionagetätigkeit fliegt auf. Sie wird gefoltert und stirbt an den Folgen.
Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Befreiung Shanghais verlassen die Exilanten den Ort des Grauens. Inmitten von Schutt und Trümmern spielt Weisberg mit seinem Orchester die Abschiedssymphonie.
Am Anfang und am Ende der Geschichte über das Musikerehepaar Weisberg taucht sie auf, Haydns Abschiedssymphonie. 1938 ist es ein Abschied aus der höllisch bedeckten Heimat. Am Ende des zweiten Weltkriegs ist es ein Abschied aus der höllischen Zufluchtsstätte.
Eine Zufluchtsstätte, deren Elend zentnerschwer auf den Einreisenden lastet und nur eins abverlangt. Das bittere Überleben. Nicht jeder ist dafür geschaffen, die tonnenschwere Last zu ertragen. Elisabeth Weisberg gelingt es nicht. Erschlagen von den Demütigungen und ihrer körperlichen Entwürdigung durch die Nazis, erschlagen von dem erbärmlichen Leben in der Fremde gibt sie, die bislang hart für ihren jüdischen Mann gekämpft hat, auf. Zur Aufgabe gezwungen wird hingegen die Jüdin Hilde Braun. Ihr gut getarnter Anker als Sekretärin in der deutschen Botschaft fliegt auf und ihr verdeckter Kampf gegen die Nazis ist damit verloren.
Shanghai, der noch einzig möglich erreichbare Hafen, wird zum Dschungel des Überlebens. Ein Dschungel, der mit der Gründung des Shanghai Ghettos tiefschwarz wird. Tiefschwarz ist aber auch das Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft, die in einem Punkt besondere Geschlossenheit zeigt: Schließung der Häfen für die jüdisch flüchtende Bevölkerung. Auf der Konferenz von Évian gehen in diesem Punkt im Sommer 1938 32 Staaten konform. Sprechen 32 Staaten das Todesurteil für Abertausende von Juden aus. Haben 32 Staaten „[...] ihre Grenzen gegen die lästigen jüdischen Eindringlinge hermetisch verschlossen [...]“ wie das Auswärtige Amt Nazideutschlands im Januar 1939 in einer Studie „zur Auswanderung der Juden“ feststellt. Dieser antisemitische Schandfleck der internationalen Staatengemeinschaft ist nicht wegwischbar und zeigt seine Beständigkeit in der polarisierenden Nah-Ost-Politik.
Leb wohl, Shanghai. Ein extrem kraftvoller Roman über jüdische Einzelschicksale während der Shoa in dem Zufluchtsort Shanghai.
Angel Wagenstein, Leb wohl, Shanghai, Roman, Originaltitel: Farewell Shanghai, Originalverlag: Colibri, Sofia 2004, Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm, DEUTSCHE ERSTAUSGABE 2010 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, Gebundenes Buch, Pappband mit Schutzumschlag, 352 Seiten, ISBN: 978-3-570-58008-0, € 22,95 [D] | € 23,60 [A] | CHF 39,90 (UVP)
© Soraya Levin