Es ist kein Festtag für Lyonel Trouillots Figuren , die an diesem 200. Unabhängigkeitstag in Haiti mit Worten gegen die Fessel der Armut demonstrieren. In den Straßen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince herrscht Krieg. Staatlich beauftragte Killerbanden sind auf die friedlichen Demonstranten angesetzt. Inmitten des Aufruhrs der Student Lucien und sein Bruder Little Joe. Ein Intellektueller und ein jugendlicher Killer. Beide auf der Suche nach einem Schlupfloch aus dem karibischen Armenhaus. Der eine nimmt den Weg der Bildung und Worte, der andere den Weg der Gewalt.
Für Lyonel Trouillot reichen ein paar Stunden am Vormittag des schlachtreifen Jahrestages, um die desolate Situation Haitis durch seine Figuren deutlich zu machen. Es sind die inneren Dialoge der gegensätzlichen Charaktere, die den Blick auf das gesellschaftlich gespaltene Haiti freilegen. Die Spinne der Armut hat ihr Netz um die überwiegend farbige Landbevölkerung des Hochplateaus gebaut. Sie trägt den Namen gierige Korruption und spannt ihr Netz von Wahl zu Wahl. Die Verlierer sind Familien wie die von Lucien. Seine Mutter, erblindet durch einen Mangel an medizinischer Versorgung, begleitet Lucien gedanklich und im inneren Gespräch auf dem Weg zur Demonstration. Die Übermacht der Armut hat die ehrbare Erziehung und das Traumgebäude der Mutter auf eine bessere Zukunft für die Söhne überrannt. Little Joe ist durch die Hoffnungslosigkeit verroht. Seine entfesselte Gewalt entlädt sich an der verhassten Bourgeoisie und reicht vom Diebstahl über Vergewaltigung bis zum Mord.
Lucien kanalisiert seine Wut gegen das Unrecht in Bildung. Die Gedanken während des Gangs zur Demo säen Zweifel an dem friedlichen Protest. Sein Bildungskapital hat ihn bislang nicht aus der sozialen Distanz der Parallelgesellschaft befreien können. Er gibt dem Sohn einer Arztfamilie Nachhilfe und spürt deren Arroganz und Ablehnung, die seine verachtende Armut herauspresst.
Beide Seiten verabscheuen sich und brauchen sich. Der eine das Wissen des Armen, der andere das Geld des Vermögenden. Der Autor verdeutlicht mit der Figur des Arztsohnes, dass die Schichtzugehörigkeit entscheidend für die Bildung und den späteren Erfolg ist. Für die Armen bleibt das Leben der Reichen ein Sperrgebiet.
Lyonel Trouillots Figuren tragen ein schmerzhaftes Verlangen nach einem anderen Leben mit sich herum. Lucien sehnt sich nach dem Meer. Sein kleiner Bruder Little Joe berauscht sich mit Klebstoff und geklauten Luxusgütern. Seine gescheiterte Welt mündet in brutalster Aggression. Die Ausländerin träumt von der karibischen Sonne, Sand und Rum und sieht nicht den zersplitterten Alltag. Die Ehe des Arztpaares ist zerrüttet wie Haiti. Der Ladenbesitzer träumt von früher, da das Jetzt und die Zukunft nur Schatten wirft und seine Frau flüchtet sich in Gott.
Der Jahrestag liest sich als eine durch die Charaktere Profil gewinnende Sozialkritik. Nie geht es um die Missstände der Politik an sich. Trouillots unterschiedliche Figuren sind es, die indirekt die korrupten Baumeister der Armut anprangern. Die Propagandaplakate wechseln von Duvalier zu Aristide, nur die politische Clique nicht. Sie ist verantwortlich für eine gefährliche Parallelwelt mit Kontrasten, wo der Alltag im Bürgerkrieg mündet. Die Schatten der Gewalt, die sich an diesem Tag tödlich gegen Lucien entladen, treffen symbolisch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Jahrestag, Lyonel Trouillot, das französische Original erschien 2004 unter dem Titel ‚Bicentenaire‘, Actes Sud 2004, aus dem Französischen von Peter Trier, 96 Seiten, Softcover, litradukt, Literatureditionen Manuela Zeilinger-Trier, Trier Oktober 2012, 11,90 EUR, ISBN 978-3-940435-12-5
© Soraya Levin