Sie beginnt mit einem Krieg, sie endet mit einem Krieg. Die Lebensgeschichte von Ora, erzählt von David Grossman.
Es ist während des Sechs-Tage-Krieges 1967 in einem Krankenhaus in Israel. Ihr Name ist Ora und sie ist 16 Jahre alt. Insgesamt sind sie drei auf der Isolierstation. Das weiß sie seit der letzten Nacht, als er zu ihr kam. Avram, so voller Leben. Er schreibt. Hörspiele, Geschichten und Gedichte. Er sitzt auf ihrem Bett, erzählt mit ihr. Sie streiten sich, sie mögen sich. Ora mag auch Ilan, Avrams Freund. Eine ungewöhnliche Freundschaft, die sich Nacht für Nacht aneinander klammert.
Der Krieg kehrt 1973 nach Israel zurück. Avram und Ilan sind beide im Kriegseinsatz. Es sind ihre letzten Tage beim Militär. Sie losen, wer als erstes nach Hause gehen darf. Während Ilan in Sicherheit ist, kämpft Avram um sein Leben. Er gerät in ägyptische Gefangenschaft. Ab diesem Tag ist alles anders. Gefoltert und ohne Hoffnung, verliert Avram sein Inneres und das Gefühl der Liebe. Ilan und Ora gründen eine Familie. Sie haben zwei Söhne. Adam und Ofer. Ilan trägt jahrelang eine Schuld mit sich, die nicht seine ist: Avrams Gefangenschaft. Avrams Leben bleibt leer. Ihre Freundschaft zersplittert, geht auf Distanz.
Jahre später. Ilan verlässt Ora, geht mit Adam ins Ausland und der Krieg kehrt wieder zurück. Der Irak zwingt Israel zur Mobilmachung. Ofer, gerade aus der Armee entlassen, meldet sich freiwillig. Ora bringt ihren jüngsten Sohn wie ein Opfer zum Sammelplatz. Die Angst packt Ora, macht sie zur Gejagten. Sie will Ofer nicht verlieren. Sie will unsichtbar sein, sich verstecken vor der brutalen Nachricht. Ora ergreift die Flucht. Gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Avram wandert sie ohne Halt der Nachricht davon. Sie wollen nur fliehen und entdecken in ihrer Atemlosigkeit die Risse und Wahrheiten in ihrem Leben.
Welch eine Begabung. David Grossman, ein wunderbarer Dirigent der Wörter. Grossman macht sie sichtbar. Die Gefühle, die Schreie, die Explosionen der Seele.
Was für eine Interpretationsmacht. Das Bild des Krieges, laut und gewaltig und daneben drei Isolierte in der Stille des Krankenhauses. Einsam kämpft jeder Soldat, einsam kämpfen Ora, Avram und Ilan gegen ihre Krankheit. Zwischen Tod und Leben, leiden sie gemeinsam und stützen sich. Getrieben von Lebensfreude, verfolgt von der täglichen Bedrohung eines palästinensischen Attentats, einer tot bringenden Nachricht, sind sie Flüchtende. Avrams Leben verschwindet an nur einem Tag lautlos in der ägyptischen Folter. Das alte Leben mit Ora und Ilan macht ohne ihn weiter. Doch hinter der Fassade ist es angeschlagen, der Zerfall nicht aufzuhalten. Die unsichtbare Schuld klammert an Ilan. Ora umschlingt ihre Familie und merkt nicht, dass diese längst nur noch aus Stücken besteht. Eine Kluft liegt zwischen ihrer Welt und der Welt ihrer Söhne. Sie wartet jahrelang auf Avram, doch sie weiß es nicht. Bis zu ihrer Flucht. Weglaufen vor der Nachricht, heißt weglaufen vor der Wahrheit. Eine Wahrheit, die Schatten wirft.
Ein Schatten, der sich tragischerweise auf den Autor selbst legt. Sein Sohn Uri fällt im Südlibanon.
Grossman dirigiert seine Figuren aus Oras Perspektive in die Tiefen der Seele. Zwischen dem Auf und Ab einer Liebe zu zwei Männern, einer Liebe zu den Kindern und dem Bund der Freundschaft zeigt Grossman, dass in Israel, wo Krieg zum Alltag gehört, jeder von Angst begleitet ist.
Ein tiefgründiges Buch mit wuchtigem Nachhall, dessen Figuren nach dem Lesen nicht lautlos verschwinden.
Eine Frau flieht vor einer Nachricht, David Grossman, die hebräische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel, Ischa borachat me-bessora bei Ha-Kibbuz ha-me’uhad in Tel Aviv, übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Roman, fester Einband, Carl Hanser Verlag, München im August 2009, 736 Seiten, 24.90 € (D) / 42.90 sFR (CH) / 25.60 € (A), ISBN 978-3-446-23397-3
© Soraya Levin