Aus allem Unentrinnbaren ausbrechen und abtauchen in eine Nische. Das tut Ursula Frickers Protagonist in ihrem Roman Das letzte Bild.
Als seine Tochter 5 Jahre alt ist, verlässt er England und die Familie. Kein Wort an seine Frau Emma, er geht einfach. Sein Name ist Floyd, er ist Fotograf. Es ist kurz vor Weihnachten und nun, nach 10 Jahren besucht ihn seine Tochter Josephine zum ersten Mal. Was sie vorfindet, ist kein Ort für Vergnügungssüchtige. Eher ein Ort des Rückzugs und der Einsamkeit. Das Haus von Floyd allein inmitten der tiefen brandenburgischen Wälder und Seen. Zwischen Josephine und Floyd klafft ein
10-jähriges Loch. Keine Vertrautheit, kein verborgenes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Seine Tochter ist so nichtssagend, wie sein Leben vor dem Weggang. Josephine zeigt keinerlei Interesse an ihm, sitzt einfach nur trotzig den ganzen Tag vor dem Fernseher oder schreibt SMS.
Den Heiligabend verbringen sie am See. Eine trügerische Beschaulichkeit, die sich da zwischen ihnen abspielt. Josephine empfindet Floyds Welt erbärmlich. Sie kapiert es nicht. Wie kann er nur für dieses jämmerliche Leben seine Familie aufgegeben haben? Enttäuscht und voller Wut rennt sie in die schneebedeckte Nacht. Es ist immer noch Heiligabend. Es ist auch der Abend seitdem sie, Josephine, vermisst wird. Floyd sucht sie. Emma reist an. Doch da ist nichts mehr Verbindendes, nicht mal ein Miteinander bei der Suche nach der gemeinsamen Tochter. Die Polizei durchkämmt den Wald, Taucher arbeiten sich durch den See. Keine Spur von Josephine. Floyd übernimmt keine Verantwortung für ihr Verschwinden. Er hat ihr Gesicht ja kaum gekannt. Das letzte Bild, ja, da
war sie 5 Jahre. Er hat kein anderes, hat keins gemacht. Macht jetzt auch keine Fotos mehr. Er kehrt nur scheinbar in sein Leben zurück. Er ist untätig, verwahrlost immer mehr, hat Wahnvorstellungen und versteckt einen imaginären Mörder. Zweifel kommen bei ihm auf. Ist er, Floyd, vielleicht auch zum Mörder geworden? Hat er Josephine vielleicht in der Nacht am See ermordet? Seine Befürchtung löst sich auf, Josephine ist wieder da, er spricht mit ihr. Ist es nur eine Einbildung? Nein, für Floyd ist es Realität. Fast ein Jahr später gibt es eine neue Spur von Josephine. Die Suche beginnt von vorn. Floyds imaginärer Mörder verschwindet aus seinem Haus. Floyd ist restlos ausgelaugt. Am Ende gibt er sein Leben auf und flieht vor sich selbst.
Flucht. Flucht und Abtauchen. Wörter, die sich beim Lesen des Romans Das letzte Bild von Ursula Fricker sofort ins Bewusstsein drängen. Frickers Protagonist Floyd steht für die trügerische Gesellschaft, in der Anpassung und Erfolg oftmals nur eine glänzende leicht zerbröckelnde Hülle sind. Eine Hülle, die keinen Raum zum Durchatmen lässt, keinen Ort des Rückzugs bietet. Wie Spinnenbeine umklammert sie die Seele des erfolgreichen Fotografen Floyd. Sich aus der Umklammerung zu befreien, heißt für Floyd aus seinem bisherigen Leben zu fliehen. Eine Flucht in die Einsamkeit der brandenburgischen Wälder. Die Flucht entpuppt sich mit dem Wiedersehen und dem Verschwinden seiner Tochter Josephine als rissige wunde Attrappe, hinter der ein verlorenes Leben steht.
Das letzte Bild von Ursula Fricker ist mehr wie ein wirklich gut skizziertes Psychogramm eines Aussteigers. Einfach fesselnd und tiefgehend.
Das letzte Bild, Ursula Fricker, Roman, gebunden, 192 S., I. Auflage, 2009 Rotpunktverlag, Zürich, CHF 30,00, EUR 19,00, ISBN 978-3-85869-400-3
© Soraya Levin