Der Titel des Romans Lincoln Highway lässt anklingen, dass der Leser in eine Art Roadmovie der Literatur eintaucht.
Wir sind im Juni 1954 mit dem 18-jährigen Emmett und seinem kleinen Bruder Billy für ganze zehn Tage unterwegs. Jedes Buchkapitel entspricht einem Tag. Wobei der Autor uns am Tag zehn, dem Beginn des Romans, mit seinen Figuren bekannt macht. Die Brüder sind aus Nebraska und ihr Ziel ist Kalifornien, wo sie nach dem Tod des Vaters planen, ihre Mutter zu finden. Hoch verschuldet lassen sie ihr Zuhause zurück. Aber es gibt ein gerettetes Stück: Den Studebaker. Mit diesem extravaganten Wagen, den die Weltwirtschaftskrise um Haaresbreite vom Markt hinwegraffte und der später sein Comeback feierte, stattet Amor Towles seine Protagonisten aus. Emmett und Billy Watson sind wie die fast verschwundene Automarke auf dem Weg aus ihrem Tief heraus und steigen auf in eine neue Liga. Der Lincoln Highway ist eine enorme Herausforderung, der sie sich mutig stellen. Er führt einmal quer durch die USA vom Osten bis in den Westen. Für Emmett und Billy bleibt es anfangs bei der Planung, die Straße zu erobern. Zwei Freunde aus dem Jugendgefängnis verursachen problematische Verstrickungen und verzögern den Beginn ihrer Fahrt. Es ist kein Zufall, dass der Startpunkt des Highways der Times Square in New York ist. An diesem Platz trennen sich die Wege und man entscheidet sich für seinen eigenen Lebensentwurf. So wie Emmett und Billy sich entscheiden, Nebraska zu verlassen.
Emmett ist einer von hier. Sein Fortgang ist sinnvoll, da durch ihn - zwar unabsichtlich – ein Junge zu Tode gekommen ist. Dafür saß er ein. Der alte Traum nach Freiheit und Erfolg wächst in ihm und daher zögert er nicht, der Provinz auf Wiedersehen zu sagen. Diesen Wunsch verfolgen zwei weitere Jugendliche, Duchess und Woolly, die mit ihm eingesperrt waren. Im Gegensatz zu Emmett sind sie geflüchtet und haben ihre Zeit nicht abgesessen. Zeitweilig sind die Vier zusammen unterwegs. Ihre Lebensgeschichten sind in einigen Punkten ähnlich. Väter, die ihre Rolle nicht eingenommen haben und eine einzige Enttäuschung für sie waren. Da riecht es nach Alkohol, es wird gelogen und betrogen. Ja, der eigene Vater von Duchess bezichtigt ihn eines Diebstahls und bringt seinen Sohn ins Gefängnis. Es ist nicht allein die Geldnot, die Probleme schafft. Der sensible Woolly ist aus einem vermögenden Haus. Hier greifen gesellschaftliche Zwänge, die ihn in die Enge treiben und das Hier und Jetzt in einer eigenen Welt erleben lassen. Eine Erbschaft, die versteckt in einem Sommerhaus liegt, plant er mit Duchess und Emmett zu teilen. Die drei Jugendlichen begleichen offene Rechnungen, indem sie furchtlos Prügel einstecken und austeilen. So wie die Helden in Billys Abenteuerbuch, die charakterlich unverfälscht sind und durchhalten. Hier verwischen bei dem Kind die Fantasie und die Realität und der reale Ulysees der Billy vor Gottes Hand rettet, wird eins mit Homers Figur. Statt eines Kuscheltiers stattet der Autor Billy mit einem Heldenbuch aus. Die Geschichten in dem Buch übernehmen die elterliche Rolle der emotionalen Zuwendung und der Erklärung der Welt. Amor Towles zeichnet Billy grundanständig und wissend. Das nervt zwar ab und an, stört dennoch die Lust am Weiterlesen nicht.
Der Autor zeigt, dass scheinbare authentische Personen verblassen, wenn wir ihnen ausufernd vertrauen. Jeder lebt mit seiner Vergangenheit, die prägend ist. So wie der Pastor, der ein Kind beraubt und gnadenlos Vergeltung übt. Lincoln Highway ist kein Roadmovie der Literatur, denn Emmett und Billy nehmen die Lesenden nicht mit auf den längsten Highway. Sie fahren erst im letzten Kapitel, dem Kapitel mit der Nummer eins los. Was aber durchaus Roadmovie-Aspekte sind, das ist die Sehnsucht nach dem eigenen Platz im Leben und das Bedürfnis, frei zu sein. Diesen Wunsch haben nicht nur die vier jungen Menschen, sondern ebenfalls die Nebenfigur Sally. Zu aller Freiheit gehört in dem Buch unzweifelhaft das Geld, mit dem man seinem Ziel für einen Neuanfang etwas näher kommt. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Das verkörpert zumindest der Song von Tony Bennett Rags to Riches, der im Radio läuft sowie die Erbschaft und der eine Pullman-Wagen am Ende der Güterwagenkette. Sie stehen für die soziale Trennung, wo die einen sich mit Champagner zurücklehnen und die anderen die Flucht wählen, für ihre Träumereien.
Der Autor wählt unterschiedliche Erzähler für seine Figuren. Der Perspektivenwechsel unterbricht zeitweilig den Erzählstrom, was dem Lesevergnügen nicht schadet. Amor Towles thematisiert eine Fülle an menschlich gemachten Erfahrungen. Die Energie und Lebenskraft, die einer benötigt, um in seiner Heimat mit der Landwirtschaft sein Auskommen zu verdienen. Der vorangestellte Auszug aus Willy Cathers Roman O Pioneers! verdeutlicht den Kampf, den Emmetts Vater in der Prärie in Nebraska führte. Die Rolle der Frau, die nach Unabhängigkeit strebt wie am Beispiel von Sally und Woollys Schwester. Famos versinnbildlicht an der nur erwähnten Figur der Mutter von Emmett und Billy, die das Feuerwerk am Unabhängigkeitstag liebte.
Auf der Suche sein und sich befreien von Schuld, von offenen zwischenmenschlichen Rechnungen, von gesellschaftlichen Zwängen. Selbst wenn es sich um eine brutalste Vergeltung handelt. Wie in Billys Helden- und Abenteuerbuch entschlossen sein und seinen Weg weiter fortsetzen und seinen Träumen folgen. Das ist Lincoln Highway. Das ist ein nicht alltägliches erstklassiges Lesevergnügen zwischen der Prärie Nebraskas und New York mit Professoren, die schlaue Heldenbücher schreiben. Mit Schauspielern, deren große Bühne abgeräumt ist und die selbst Zirkusclowns nicht ermuntern, mit Menschen, deren Heimat der Zug ist, mit Pastoren, die sich nicht nur wie Kriminelle benehmen, sondern die kriminell sind. Ja und mit Dieben und Menschen, die dem Suff verfallen sind und die da draußen, die kein Dach über dem Kopf haben. Mit Prostituierten und den anderen Frauen, die einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Enge suchen.
Amor Towles, Lincoln Highway, die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Lincoln Highway bei Viking in der Penguin random House Verlagsgruppe, New York, aus dem Englischen von Susanne Höbel, 1. Auflage 2022, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, ISBN 978-3-446-27567-6, gebundene Ausgabe 26 Euro, E-Book 19,99 EUR
© Soraya Levin