Der 1938 in Italien am Lago Maggiore geborene Antonio Dal Masetto lebt seit 1950 in Argentinien. Er gehört zu den wichtigsten argentinischen Autoren der Gegenwart. Sein Roman "Noch eine Nacht" liegt in Argentinien bereits als Verfilmung vor. "Noch eine Nacht" erzählt die Geschichte von "...denen, die nach Bosque kommen", die Geschichte von Ramiro, Cucurucho, Jorge und Dante.
Bosque, ein scheinbar ganz gewöhnliches Dorf irgendwo in Argentinien. Für drei Tage ist es der Ort des Geschehens. Friedlich, gepflegt und makellos die Strassen und Häuser, der Alltag für die Bewohner eintönig. Am Dorfeingang ein Bogen, mit dem Rest einer einstigen Inschrift, "...denen, die nach Bosque kommen". Es ist Sonntag. Der schwarze Peugeot mit den vier Männern durchquert den Torbogen. Im Hotel Espana besprechen die Vier die letzten Details ihres Plans, die örtliche Bank zu berauben. Diese Nacht vor ihrem großen Coup durchlebt jeder der vier Protagonisten auf seine Art. Bei dem zufällig stattfindenden Dorffest, beschleicht den herausfordernden und kampfbereiten Ramiro ein ungutes Gefühl. Schlendernde und Reden schwingende Menschen, untermalt von der Musikkapelle, Heiligenbilder. All das kennt er aus seinem Geburtsort, den er mit einem unversöhnlichen Rückblick betrachtet. Ausgelöst durch eine für den Dorftrottel vorgetäuschte Hochzeitsfeier, spürt Ramiro, dass seine Flucht aus seinem Geburtsort kein Entrinnen aus der zerstörerischen Realität bedeutet hat. Dieselbe Art von Menschen. Derselbe Spaß an Erniedrigungen, Demütigungen. Derselbe Hass. In einer Kneipe bei Wein und Kartenspiel von der ruhigen Gemütlichkeit eingefangen, fragt er sich jedoch, ob es der richtige Weg ist, immer am Rand der Gesellschaft zu stehen. Er sieht für sich noch eine Chance, neu anzufangen. Der arglose Cucurucho spürt die Gefahr und sieht ihr mit Furcht entgegen. Er ist über das eigene Vorhaben verunsichert. Nur seine Freunde geben ihm die notwendige Ruhe.
Seitdem Dantes Frau ihn mit den zwei Kindern verlassen hat, ist sein Zuhause nur noch ein Hotelzimmer nach dem anderen. Die Erinnerung lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Gemüthaft und empfindlich möchte auch er etwas halten und besitzen und auf der Suche danach wühlt er in den Tiefen seines Lebens.
Für Jorge, dem Jüngsten, sind seine Freunde wie eine Familie. Beim Tanz lernt er die junge attraktive Adriana kennen. Sie verbringen eine leidenschaftlich erotische Nacht miteinander. Jorges Leidenschaft weicht jedoch einer bis zur Ekstase gesteigerten Hassliebe, da er sich um Adriana und diesen Moment des Lebens, der wieder einer von vielen ähnlichen ist, betrogen sieht.
Es ist Montag und während der Siesta rauben die vier Freunde die Bank aus. Als sie entdeckt werden, beginnt eine aufgebrachte Dorfgemeinschaft das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Wilde Verfolgungs jagden durch die Straßen von Bosque und die Absicht von ansonsten ehrbar scheinenden Bürgern, die Bankräuber zur Strecke zu bringen, kennzeichnen den Aufruhr. Alte, Kinder, Hausfrauen, Polizisten, Buchhalter, Anwälte, Priester. Keiner nimmt sich aus. Sie alle nehmen an dem "Jagdspiel" als Anführer, Ja-Sager oder Mitläufer teil. Eine nicht mehr zu stoppende Kette von dramatischen Handlungen ist in Gang gebracht. Eine willkommene Gelegenheit für einen Bürger von Bosque ein kaltblütiges Verbrechen zu begehen und die Schuld den Bankräubern zuzuschieben.
Während der Flucht bricht die Gruppe der Vier auseinander. Cucurucho bleibt allein zurück und versteckt sich in einem Haus, deren Tochter ihre Lust mit heimlichen Liebschaften befriedigt. Stunden harrt er dort aus. Leidend vor Angst und sich in Gedanken in eine friedliche Welt flüchtend. Als die Meute ihn entdeckt, breitet sich bedrohliche Lautlosigkeit und Stille aus.
Die anderen Drei beschließen sich zu trennen, da es so leichter scheint, zu entkommen. Ramiro flüchtet allein weiter. Mit Alberto, dem Holzschnitzer, gewinnt er für kurze Zeit einen Vertrauten. Doch der Weg in die Wirklichkeit führt ihn auf den Glockenturm der Kirche, den Priester als Geisel. Unten auf dem Kirchplatz, rottet sich die Meute zusammen. Verletzt und kampfbereit wünscht sich Ramiro nur eins: Rache.
Auch Dante und Jorge trennen sich. Jorge gelingt es dem brandschatzenden Lynchmob zu entkommen. Verletzt flüchtet er sich zu Adriana, in dem Glauben, dass ihre Nähe für ihn einen Schutz, einen Ausweg und Neuanfang bedeutet.
Dante harrt unterdessen hinter Kartons versteckt in einem Lieferwagen aus. Zwangsläufig und unfreiwillig nimmt er so an der Hetzjagd der Dorfgemeinschaft auf sich und seine Freunde teil. Er flieht aus seinem Versteck und findet bei Susana, der Geliebten eines Mannes aus dem Dorf, Unterschlupf. Ihr gemeinsam gefasster Plan, am Abend aus dem Dorf zu fliehen, scheitert.
Noch in der Nacht zum Dienstag kommen die vier Freunde wieder zusammen und verlassen am nächsten Tag auf nicht geahnte Weise das Dorf Bosque, in dem alles wieder wie vorher ist.
Antonio Dal Masettos "Noch eine Nacht" ist nicht nur ein äußerst kraftvoll erzähltes Buch, sondern kann auch als Krimi aufgefasst werden, der hinter die Brutalität des Alltäglichen blickt. Dal Masetto gelingt es, durch die dramatische Entwicklung der Verbindung von Moral und Grausamkeit und die damit einhergehende hervorragende Schilderung der beunruhigenden Atmosphäre, Spannung von der ersten bis zur letzten Seite zu erzeugen. Sein Ausdruck ist klar und knapp, die Sprache ohne große Schnörkel und leicht lesbar.
Der Autor macht den Leser auf dem gesamten Fluchtweg zum Begleiter immer eines Protagonisten. Mit der durch sehr viel inneren Monolog hervorragenden Zeichnung der Charaktere und des brutalen Milieus von Bosque gelingt es Dal Masetto, den Leser emotional zu steuern und bei ihm ein tiefes Mitgefühl für die Angst und Verzweiflung der Bankräuber zu entwickeln. Der Banküberfall rückt aus der Betrachtung des Lesers. Ein anderes Verbrechen, nämlich das Unrecht der Bewohner von Bosque, bestimmt die Handlung. Dem Leser tritt ein skrupellos handelnder Mob entgegen, der sein scheinheiliges sittliches Verhalten freiwillig entlarvt und sich zum Vollstrecker des Rechts ernennt. Während der gesamten Geschichte stellt sich dem Leser die beklemmende, wütend machende Frage, "wie können ganz gewöhnliche Menschen wie Du und Ich jedwede ethischen Wertvorstellungen vergessen und über Bord werfen? Bin auch ich vielleicht in Bosque?"
Eine überaus spannende und lesenswerte harsche Anklage an falsche Moral, nicht nur die der "Gesellschaft" von Bosque.
Antonio Dal Masetto, Noch eine Nacht, Rotpunktverlag, 2006, 280 Seiten, gebunden, aus dem Spanischen von Susanna Mende, ISBN 10: 3-85869-309-X und ISBN 13: 978-3-85869-309-9
© Soraya Levin