Martin Kušej, so heißt der Mann, der sich selbst Kärtner Slowene nennt. Der uns einen tiefen Einblick in seine Künstlerpersönlichkeit gibt. Ein Theaterrebell und Fallensteller für das Vergessen der tradierten Ideen, der trotz der dünnen Theaterluft in die Tiefe der in Szene gesetzten Theaterlandschaften vordringt. Der die Grenzen des klassischen Theaterstücks neu auslotet und verschiebt. Der das klassische Stück zum Schmelzen bringt und aus ihm wieder ein neues „Eis- Stück“ formt. Er strotzt nur so vor Ideen und bringt damit Unruhe in das verwöhnte Theaterpublikum. Bei ihm bebt der Saal nicht vom Fußtrampeln der begeisterten Zuschauer, sondern von der Wut der Empörten über die Neuinszenierung des Stückes.
Martin Kušej, jetziger Direktor des Burgtheaters in Wien, immer in Bewegung, immer auf der Suche nach dem eigenen Ich. Es ist keine leichte Aufgabe, diese hingebungsvolle und immer durstige Liebe zum Theater, in der nur der Moment zählt. Ein Moment, von dem ein Vorher und ein Nachher losgelöst sind. Ein Moment, den Martin Kušej als einen weißen Zustand bezeichnet. Das ist es, was diesen Theaterprovokateur ausmacht. Sein Erkunden dieses farblichen Spektrums von weiß, in dem keine Ausgrenzung stattfindet. Sein Publikum ist verschnupft, wenn er ihnen den Spiegel über den Umgang mit der eigenen Historie und mit Wertvorstellungen zum Nationalismus und zur Demokratie vorhält wie mit seinem Stück „Sprache - Zeit - Begegnung“ und der Neuinszenierung der Hermannsschlacht.
Es ist bei ihm nicht dieses Es war einmal ... und dann kommt der klassische Stoff, den der Zuschauer oftmals gewohnt ist und den er auch oftmals haben möchte. Es ist dieses Rauszerren aus der Komfortzone, aus dieser heilen Welt, das keinen sich treibenden Unterhaltungsabend schafft, sondern eventuell einen Kabelsalat im Kopf produziert.
Zugegeben, diese Neuinszenierungen sind für keinen Theatergänger leicht und verlangen dem Zuschauer etwas ab.
Aber das Leben insgesamt ist ein Farbspektrum, das sich in diesem Weiß wieder zusammenfügt und dessen Extreme oft einen intensivmedizinischen Charakter haben.
Das fasziniert mich an Martin Kušejs Sicht und Haltung. Theater bedeutet für ihn neben dem Hochdruckgebiet der Liebe auch das Tiefdruckgebiet des Todes aufzuzeigen. Die Schilderung seines „Halte dir die Waffe an den Kopf-Experimentes“ im Seminarraum zu Jean Amérys Essay „Hand an sich legen“ kann man sicherlich extrem nennen, aber hier kann eine Parallele zu Améry gezogen werden. Während der Freitod für Améry kein „absurder Akt“ ist, sondern aus einer Unfreiheit in die Freiheit mündet, ist für Martin Kušej das Einfühlen in das Extreme auch kein absurder Akt, sondern dieses Einfühlen mündet ebenfalls in die Freiheit und zwar sich der Realität zu stellen. Einer Realität von Liebe, Macht, Unterdrückung, Unfreiheit, Freiheit und Tod. Einer Realität von dem Menschen mit seinen guten und bösartigen Facetten.
Ob bei Hamlett, Tosca, Fidelio, Don Giovanni oder Kabale und Liebe. Martin Kušej lüftet den Schleier in der Hoffnung auf einen Wendepunkt im Denken und der Sicht auf die Dinge hinsichtlich der Macht, und der Körperlichkeit, zu der natürlich auch die Sexualität gehört sowie die Selbstliebe und die Liebe.
Eine Liebe, die nicht idealisierend und fordernd ist. Nicht so wie bei dem Fassbinder Stück, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, dessen Text ihn aufgewühlt hat und gefangen nahm. Es geht bei Kušej auch bei der Liebe immer um die Wahrheit. Eine Wahrheit, die er bei sich selbst nicht formen konnte.
Kušej. Hinter mir weiss ist ein Mix aus einem Selbstporträt eines Mannes, auf der Suche nach sich selbst sowie ein fantastischer tiefer Erkundungsgang durch die Theaterszenerie, der Lust und Laune zum Nachdenken, Überdenken und Weiterdenken schafft. Ja, Martin Kušej zu folgen, ist bei aller Ernsthaftigkeit und Schwere mancher seiner biografischen Punkte trotzdem ein äußerst unterhaltsamer Austausch. Man bekommt Lust auf neues Denken und versteht es, dass sein Handeln der Neuinszenierungen der alten Stücke kein subversiver Akt den klassischen Stücken und dem Theaterpublikum gegenüber ist, sondern genau das Gegenteil.
Wie kommuniziert ein Theatermann mit dem Publikum, das vielleicht nicht kommunizieren will? Das vielleicht die Komplexität nicht versteht. Gerade bei Fragen zum Thema Antisemitismus und Rassismus, wo Martin Kušej die Meinung vertritt, Stücke mit derartigen Inhalten als Projektion zu nutzen, wird es schwierig. Wer darf was? Dürfen die Theaterdarsteller in jede Rolle schlüpfen? Er sagt eindeutig ja, denn das ist genau Theater. Hier vertritt er das Gegenteil der Blackfacing- Debattenvertreter.
Man kann es nennen wie man will, aber es wird zu einem Trauerspiel, wenn das Publikum sich nicht darauf einlassen möchte. Und das wäre mitnichten nicht nur schade, sondern am Ende wird es vielleicht ein Politikum.
Der Untertitel des Buches lautet Hinter mir weiss. Ein absichtliches Wortspiel? Hinter ihm weiß beim Schneespaziergang, denn nicht die vergangenen Spuren weisen die Richtung, sondern bei Martin Kušej der Moment, also das Hier- und Jetzt-Gefühlte. Weiss ohne ß steht als ein Teil von wissen. Ein Wissen um das Verborgene wie die Erfahrungen und die Zusammenhänge hervorzuheben.
Er ist sympathisch, dieser Theater-Grenzgänger und zwar von der ersten Seite bis zu letzten. Und sein Stoff? Der ist geistreich und bewegend. Lesen bildet, bei Martin Kušej trifft dieses definitiv zu. Und der nächste Theatergang? Gerne in eine Inszenierung von Martin Kušej.
Martin Kušej, Kušej. Hinter mir weiss, 2022 Edition a, Wien, 192 Seiten, gebunden, 24 EURO, ISBN 978-3-99001-538-4
© Soraya Levin