Erwachsen werden ist schwer. Ganz besonders inmitten von Paris der 1980er Jahre mit einem malenden Vater und einer dichtenden Mutter, dem Patenonkel Samuel Beckett und dem Schatten des Holocaust im Nacken. Über ihren Aufruhr und ihren Hunger nach einer ganz alltäglichen Familie schreibt Alba Arikha in ihrem autobiografischen Roman Wörterbuch einer verlorenen Welt. Es ist kein stereotyper Adoleszenzroman zwischen der Kindheit und dem Erwachsenwerden. Alba Arikha erzählt über ihre mit dem undurchsichtigen Schmerz der Großmutter und Eltern beladenen Backfischjahre.
Sie ist keine Heilige, sondern eine pubertierende Jugendliche. Alba ist wie ein stürmisches Meer. Angriffslustig und kampfbereit. Hitzige Wortgefechte mit ihrem Vater, widerborstige Reaktionen und wutentbrannte Ausbrüche gegen die Eltern, die Lehrer und Mitschüler. Sie mag ihren Körper nicht, fühlt sich hässlich und ist irgendwann verliebt. Sie hat keine Lust auf die Schule, träumt im Unterricht vor sich hin, versagt und muss die Schule mehrfach wechseln. In schrillem Outfit mit Minirock und Lippenstift dick aufgetragen tanzt und kifft sie auf Partys und hört heimlich Rockmusik. Sie ist dünnhäutig und fühlt sich vom Vater gegenüber ihrer jüngeren Schwester benachteiligt. Nie entspricht sie den Erwartungen, macht scheinbar alles falsch. Seine Vergangenheit ist wie eine fossile Wand, die keine wutlose Verständigung zulässt. Auch zum Innern der Großmutter Pepi gibt es keine Brücke. „Sie muss trauern, um zu spüren, dass sie lebt.“ und diese Trauer ist wie ein Bollwerk, zu dem nur ihr Vater als Betroffener Zugang hat. Alba versteht diese Last nicht. Sie verhungert unter dieser Kruste des familiären Schmerzes.
Ein Schmerz, der 1940 mit der Verfolgung durch die Deutschen in der Bukowina begonnen hat. Statt Normalität des Lebens, von heute auf morgen Deportationen, Hunger, Kälte, Schläge, ständige Angst, Schreie, eine leblose Masse Mensch eingepfercht in Waggons und Ghettos, den Tod allgegenwärtig. Hier hat es für kein Alter mehr eine Jugend gegeben. Auch Albas Vater hat sie nie kennengelernt, diese Jugend. Er kann daher schwer die Träume seiner Tochter verstehen. Und Alba, die nach und nach die Geschichte ihres Vaters und seiner Familie erfährt, kann nicht mit der familiären Vergangenheit umgehen. Nicht mal mit der Gegenwart und eines Teils ihrer Identität ist sie vertraut. Sie versteht es nicht, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Sogar als eine Mitschülerin die Freundschaft mit ihr aufgrund ihres jüdischen Glaubens ablehnt, erfolgt bei ihr keine Reaktion.
Und die Gedichte schreibende Mutter? Auch sie ist ein unverstandenes Blatt für Alba. Ihre stoische Gutmütigkeit wirkt abschreckend.
Obwohl Alba in einer Künstlerfamilie groß wird, sehr viel interessante Menschen bei ihnen ein- und ausgehen, empfindet sie ihre Familie als wenig glanzvoll. Die Echtheit stört sie. Es ist ihr zu unverfälscht, zu rein, zu makellos. Sie strebt eher nach dem künstlichen Glamour anderer Familien. Es ist wie eine Sehnsucht nach der Illusion einer scheinbar intakten Familie.
Aber ihre Familie, die in Paris lebt und den Sommer in Israel verbringt, ist nicht intakt. Der Vater leidet unter „Naziflashbacks“. Geplagt von Alpträumen schreit er in der Nacht „Raus - Jude - Achtung“. Nur die Widerstandsfähigen haben die Folter, die Deportationen und das Ghetto überlebt. Diese Sicht hat ihn geprägt. Schwäche zeigen ist daher nicht angebracht. Das gilt auch für Alba, die zäh und beharrlich zu sein hat. Der enorme Verlust, den er als Kind durch die vielen Toten und die 14jährige Trennung mit der in Rumänien zurückbleibenden Mutter erfahren hat, führt zu Beziehungsproblemen. Die Eltern streiten sich oft. Die Mutter droht den Vater zu verlassen. Und der Vater? Da sind sie wieder die Verlustängste und es bleibt die Bitte um Verzeihung.
Die Großmutter Pepi, die erst 1957 Rumänien Richtung Israel verlassen darf, ist ebenfalls hoch traumatisiert. 14 Jahre ist sie von ihren Kindern getrennt gewesen. 14 Jahre, in denen der Kalte Krieg die jüdischen Opfer ein weiteres Mal zu Opfern gemacht hat. Nicht die menschliche Seite hat schließlich Mitgefühl gezeigt, sondern allein die ökonomische Komponente hat für Pepi den Weg Richtung Israel geöffnet. Israel als Zuflucht und Obdach. Es ist daher kein Wunder, dass die Eltern wie gebannt jegliche Kriegsmeldung aus dem Nahen Osten und Israel voller Sorge in sich aufsaugen.
Die Wunden der Vergangenheit sind nicht verheilt. Jegliche sinnliche Eindrücke wie Musik oder Gedichte lassen das Erlebte wieder aufleben, lassen die Erwachsenen in Tränen aufgelöst zurück und mitten drin das Kind, die Jugendliche, die nicht verstehende Alba.
Alba Arikha erzählt in Wörterbuch einer verlorenen Welt einen schweren Stoff mit einer erfrischenden Leichtigkeit. Sie beschreibt ihre Klimmzüge des Erwachsenwerdens im Paris der 1980er Jahre in einer jüdischen Künstlerfamilie umgeben von Größen wie Samuel Beckett und dem dauerhaften Schatten des Holocaust.
Ist es ein Holocaustroman der zweiten Generation? Oder eher die Entwicklungsphase einer Heranwachsenden, die noch nicht das Gefühl für die schwere Last der Eltern aufbringen kann? Beides ist sicherlich richtig. Es geht auf jeden Fall um Identitätsfindung inmitten einer Familie von geraubten und zerstörten Identitäten.
Alba Arikha, Wörterbuch einer verlorenen Welt, Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel Major / Minor bei Quartett Books Limited, Übersetzt von Friederike Meltendorf, 256 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, 2014 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin, ISBN: 978-3-8270-1102-2, € 19,99 [D], € 20,60 [A], sFr 28,90
© Soraya Levin