Der Berliner Rabbiner Leo Baeck ist nicht der erste jüdische Religionsgelehrte, aber dieser Mann reiht sich ein in die führenden Neudenker der jüdischen Religion wie Moses Maimonides und Moses Mendelssohn.
Drei große jüdische Religionsphilosophen vom 11. bis zum 20. Jahrhundert, für die Glaube und Vernunft keinen Widerspruch bilden. Moses Maimonides definiert mit diesem Ausschluss des Widerspruchs das Jüdische bereits als Religionsphilosophie. Auch bei Spinoza finden wir diesen Gedanken des Moses Maimonides. Eine These, die auch Leo Baeck trägt, die ihn vielleicht gerade deshalb wie der Autor sagt, über Spinoza promovieren lässt.
Die Religion mit ihren tradierten Werten muss sich der Realität öffnen. Moses Mendelssohn greift diesen Gedanken sechs Jahrhunderte später während der Aufklärung wieder auf und zeigt, dass sich die jüdische Identität nicht allein auf die Religion reduzieren lässt. Er will teilhaben an der Gesellschaft und fördert die Übernahme deutscher Kulturgüter und tritt ein für die gesellschaftliche Gleichberechtigung der religiösen Gruppen. Dieser Spagat zwischen der Annahme der weltlichen Werte wie allgemeine Bildung auf der einen Seite und der Religiösität auf der anderen Seite führt vielfach zur Konversion hin zum Christentum oder zur gänzlichen Abkehr vom Judentum. Reformer wie Leo Baeck suchen hingegen nach einer Lösung, das Judentum mit der modernen Lebenswelt zu vereinbaren und es dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Dieser religionsphilosophische Gedanke findet sich in seinem 1905 erscheinenden Hauptwerk „Das Wesen des Judentums“. Baeck nimmt mit seiner Schrift die Herausforderung des Kirchenkritikers von Harnack an, der mit seiner Schrift „Das Wesen des Christentums“ seinen theologischen Standpunkt hervorhebt.
Baeck verdeutlicht, dass es um die wissenschaftliche Erfassung des Judentums geht und die Frage nach der jüdischen Identität, die nicht christlich normativ gefasst werden kann.
Baeck spricht nicht nur über einen theologischen Standpunkt. Er weist auf das Fundament des hebräischen Monotheismus hin. Es handelt sich um eine am Gottesglauben gekoppelte Ethik, die den Menschen moralische Autonomie gibt anstatt christlicher dogmatischer Gnade. Da die Dogmen mit einer zentralen Institution wie der Kirche gekoppelt sind, kann es kein dogmatisches Judentum geben und dementsprechend auch kein orthodoxes. In der Umkehr stellt sich daher die Frage nach dem Zustandekommen der Religionsgesetze. Sind sie im jeweiligen historischen Zeitkontext entstanden und sicherten die Lebensgrundlage der Gemeindemitglieder oder sind es Gesetze, die jeder für sich aus seiner Position als eigener „Rabbiner“ geschaffen hat.
In dieser theologischen Auseinandersetzung wendet sich Leo Baeck 1869 auch Richard Wagner zu und antwortet auf sein Hasspamphlet gegen das jüdische Wesen. Er verdeutlicht, dass die christliche Existenz ohne die jüdische nicht denkbar ist. Denn erst durch den von Paulus ins Spiel gebrachte Christus-Mythos hat sich die jüdische Sekte zur Gruppe der Christen abgespalten, die sich nun an die Stelle des Talmuds einen personellen Mittler zu Gott, nämlich Jesus, geschaffen habe. Stellt man die historische Figur Jesus Christus in Frage, so ist ebenso das Christentum in Frage gestellt.
Im Judentum gibt es keine Mittlerfigur zu Gott, da es sich aus Ideen speist.
Leo Baeck, der es von der Kleinstadt Lissa über Oppeln bis in die preußische Haupstadt Berlin und zum religiösen jüdischen Würdenträger geschafft hat, sieht, dass die jüdische Kultur durch Konversion zum Christentum zu zerfallen droht. Der Wunsch der entrechteten Juden nach gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft ist so groß, dass er den Weg für eine Entfremdung von der eigenen Kultur geebnet hat.
Wenn jedoch der Jude seine jüdische Kultur auflöst, löst er sich selbst damit auf.
‚Geh‘ ins Kloster oder geh’ nach Mazedonien!’, was soviel heißt, wie die christliche Kultur führt zurück ins Mittelalter und in eine Kultur, die mit der Gesellschaft nicht im Einklang lebt, sondern sie durch ihre Dogmen beherrscht. Die Emanzipation der Juden steht diesen mittelalterlichen Lebensformen, die gerade bei den Ostjuden noch vorgeherrscht haben, entgegen und drängt sie in die Moderne. Es geht darum zu zeigen, dass das Judentum mehr ist als seine Reduktion auf die Religion.
Mit der Emanzipation und Assimilation der Juden und ihrem Aufstieg in das Bildungsbürgertum verstärkt sich der Antisemitismus. Der von Treitschkes Ruf „Die Juden sind unser Unglück“ steht im Widerspruch zur unerschüttlichen Vaterlandsliebe der deutschen Juden. Die antisemitische Judenstatistik vom Oktober 1916 bestätigt diesen jüdischen Patriotismus.
Auch Leo Baeck, Rabbiner und Professor für die jüdische Wissenschaft, wirkt bis Kriegsende als Feldgeistlicher.
In dem Maße, in dem die antijüdische Stimmung feindseliger wird, sehen sich die deutschen Juden gezwungen, sich über die unterschiedlichen Strömungen hinweg zu organisieren. Sprecher des neugegründeten Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wird Leo Baeck.
In der Nachkriegszeit des ersten Weltkriegs steht Baecks fünfbändiges Werk „Die Lehre des Judentums nach den Quellen“ für die Stärkung der jüdischen Ethik.
Der jüdische Liberalismus, der sich vom Talmud distanziert, schafft eine Alternative zur Konversion. Der Weg in die Moderne heißt für Baeck auch die religiöse Frauenemanzipation voranzutreiben.
Gleichzeitig emanzipieren sich die zionistischen Gruppen, die für die Einheit aller Juden eintreten. Die Belfour-Deklaration unterstützte sie bei der Schaffung eines Nationalstaates in Palästina. Leo Baeck steht dem Zionismus, der für viele deutsche Juden im Widerspruch zu ihrem Deutschsein steht und der vom Centralverein bekämpft wird, positiv gegenüber. Hayoun merkt an, dass Baeck sich seiner Meinung nach in dieser Frage nicht nach außen wagte, um seine Position als Rabbiner nicht zu gefährden.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt die suksezzive Entrechtung und Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft, die ihr Ende im Völkermord findet.
In diesem radikalen Klima sehen sich die jüdischen Verbände im Jahr 1933 gezwungen, ihre religiösen Differenzen zu überwinden und als gemeinsamer starker Verband aufzutreten. Sie schliessen sich in der Reichsvertretung der deutschen Juden zusammen und wählen Leo Baeck zu ihrem Präsidenten. Er ist damit nun der erste Ansprechpartner für das verbrecherische Regime.
Baeck leistet als Geistlicher im Rahmen seiner Predigten Widerstand. Nach Verabschiedung der Nürnberger Reichsgesetze, lässt er in allen Synagogen Deutschlands vor dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungsfest, eine einheitliche Ansprache verlesen. Im Anschluss verhaftet ihn die Gestapo.
‚Die tausendjährige Geschichte der Juden in Deutschland geht zu Ende.‘, sagt Baeck nach der Reichspogromnacht.
Aus den deutschen Juden werden ab dem Sommer 1939 Juden in Deutschland. Der Reichsverband der deutschen Juden muss sich zwangsweise zur Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zusammenschließen. Den Vorsitz übernimmt Leo Baeck. Diese dem Reichssicherheitshauptamt unterstellte Reichsvereinigung wird zu dessen willfährigem Instrument und hilft bei der Erstellung von Deportationslisten.
Ein äußerst moralisches Fehlverhalten, dass Hannah Arendt und Raul Hilberg veranlasst, Leo Baeck als Hitlers Helfer darzustellen.
Der Autor betont die sichtbare Problematik der Reichsvereinigung, die sogar dazu aufrief, Sabotageakte zu vermeiden.
Am 27.1.1943 wird Leo Baeck nach Theresienstadt deportiert. Im KZ übernimmt er die Rolle des obersten Rabbiners und versucht den Leidensdruck der Eingepferchten und der auf die Deportation Wartenden durch eine unbeirrbare Hoffnung zu lindern.
Der Autor sagt, Beack versteht sich mehr als moralischer und sittlicher Widerstand. Nach Hayoun hat Leo Baeck von einem aktiven Widerstand wohl abgesehen, da die jüdischen Gruppen aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft zu heterogen gewesen sind. Es könnte eine Erklärung sein. Andererseits hat die europäische Emanzipation und Aufklärung die Juden stärker in die jeweiligen Gesellschaften integriert. Ein gemeinschaftliches jüdisches Selbstverständnis konnte sich dementsprechend nicht über die Ländergrenzen entwickeln.
Während Leo Baecks Schwestern in Theresienstadt zu Tode kommen, überlebt er und wird am 8. Mai 1945 befreit. Er verlässt das Land der Täter, wird britischer Staatsbürger und Präsident der Weltunion des progressiven Judentums. In Anbetracht der Shoah kann er sich nicht vorstellen und spricht sich auch dagegen aus, dass sich eine neue deutsche jüdische Gemeinde formt. Für Leo Baeck hat die Shoah auch das Evangelium mit vernichtet, da der Ursprung der christlichen Bibel die jüdische ist und Jesus als Reformator weiterhin im Judentum behaftet blieb.
Er selbst will in dieses Land, wo über alle Gesellschaftsschichten hinweg die Verbrechensideologie verinnerlicht worden ist, nie wieder kommen.
Er wird zum Bedeutungsträger der jüdischen Überlebenden, als er für einen historischen Vortrag ins Land der Täter zurückkehrt. In Anbetracht der kleinen jüdischen Gemeinden, die ihn brauchen, korrigiert er seine Haltung und bleibt mit ihnen in Kontakt.
Die europäischen Juden waren fast ausgerottet, die Wissenschaft des Judentums auf deutschem Boden zerstört. Als Erbberechtigte des jüdischen literarischen Kulturerbes macht die hebräische Universtität in Jerusalem ihren Erbanspurch geltend. Leo Baeck übernimmt die konfliktreichen Verhandlungen mit den Alliierten. Für ihn ist es nicht denkbar, dass die jüdische Literatur der Toten an die Staaten fällt, die sich an der Barbarei beteiligt haben. Er plädiert für die Gründung einer Bibliothek in New York, das heutige Leo Baeck Institut.
Hayouns biografische Abhandlung ist nicht nur eine Aneinanderreihung der Lebensdaten von Leo Baeck. Er bindet präzise Leo Baecks Werke ebenso ein wie den zeithistorischen Kontext. Warum formuliert er aber - unter der Annahme, dass aus dem Französischen korrekt übersetzt worden ist - an zwei Punkten historisch nicht korrekt?
Hayoun spricht von dem „Schicksalsdatum der Machtergreifung durch Adolf Hitler“. Adolf Hitler hat nicht per Schicksal dem deutschen Volk die Macht entrissen. Sondern die Entscheidung für Adolf Hitler und für den Weg in den Nationalsozialismus lag beim deutschen Volk. Dementsprechend hat es auch keine Machtergreifung, sondern eine Machtübernahme gegeben.
Bei der Restitutionsthematik nach 1945 stellt sich die Frage, wie der Autor behaupten kann, „für die geraubten Güter der Juden, ... , gab es eine vollständige Entschädigung.“ Ausgrenzungen von Opfern bis hin zu der Wohnsitzfrage vereitelten im Entschädigungsgesetz von 1951 entsprechende Rückerstattungen. Geraubte Güter betrifft zudem auch Gegenstände wie Messer, Gabeln, Tischdecken, Gläser, Fotos und vieles mehr sowie die arisierten Geschäfte, die vielen geraubten Lebenschancen und das vernichtete höchste Gut, das Leben, das definitiv nicht zu kompensieren ist. Zumal im Osten Deutschlands die Entschädigungen gänzlich ausblieben und teilweise bis heute nicht geklärt sind.
Von diesen wichtigen beiden Punkten abgesehen ist die Biografie „Leo Baeck. Repräsentant des liberalen Judentums“ von Maurice-Ruben Hayoun eine Hommage an diesen bedeutenden immer auf einen Interessenausgleich bemühten Rabbiner. Ein deutscher Jude, der sich aus einer orthodoxen Erziehung bis in das Zentrum des deutschen Kaiserreichs zum Liberalen hocharbeitet. Der sich während der Weimarer Republik verstärkt zum Repräsentanten des liberalen Judentums entwickelt. Einer, der sich den Respekt in den unterschiedlichen jüdischen Strömungen gleichermaßen erarbeitet. Der versucht hat, den neuen Zeitgeist in das Judentum zu integrieren. Einer, der sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen dem Christentum und dem Judentum auseinandersetzt und der die jüdische Ethik sichtbar nach außen trägt.
Einer, der Verantwortung übernimmt und dessen Pflichtgefühl ihn auch während des Dritten Reiches an der Seite der deutschen Juden bleiben lässt. Was ihn als Vorsitzender der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umtreibt, sich an der Ausstellung der Deportationslisten zu beteiligen oder gar von Aufständen abzusehen, bleibt offen. Es ist ein moralisches Fehlverhalten, das schwer zu beantworten ist.
In Theresienstadt wird er zum Hoffnungsträger für die auf ihre Deportation wartenden Juden. Hayoun hebt an dieser Stelle Baecks Würde und Haltung hervor, die auch nach 1945 keinen sichtbaren Hass gezeigt hat. Wie verbittert und enttäuscht Leo Baeck von Deutschland und den Deutschen dennoch gewesen sein muss, wird daran deutlich, dass er auf diesen deutschen Boden keinen Fuß mehr setzen wollte. Sein Verantwortungsgefühl, den deutschen Juden wieder einen Platz in ihrer ehemaligen Heimat einzuräumen, hat ihn veranlasst, von seinem Weg abzuweichen.
Leo Baecks Leben ist bewegt davon gewesen, die jüdischen Theologie als ebenbürtige Wissenschaft zu etablieren. Es bleibt festzuhalten, dass bis heute eine entsprechende universitäre gleichberechtigte Einbettung nicht erreicht ist.
Maurice-Ruben Hayoun, Leo Baeck. Repräsentant des liberalen Judentums, Biografie, Originaltitel: Léo Baeck. Conscience du judaïsme moderne, Aus dem Französischen von Alexandra Maria Linder, 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt, 49,95 EUR, ISBN 978-3-534-25758-4
© Soraya Levin