In seiner Autobiografie „Ein Glückskind“ erzählt der amerikanische Jurist für Menschenrechte und Völkerrechtler und Richter am internationalen Gerichtshof in Den Haag Thomas Buergenthal aus der Perspektive seiner Kindheit seinen Alltag im Holocaust.
Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 verändert sich drastisch das Leben der jüdischen Bevölkerung. Entzug der elementaren Grundrechte, Anfeindungen, Hass, Verfolgung und schließlich die Vernichtung.
Thomas Buergenthals Vater Mundek verlässt Deutschland und eröffnet in der Tschechoslowakei in Lubochna ein Kurhotel. Er hofft darauf, dass die Hitler-Euphorie nicht von Dauer ist und er, sobald sich alles zum Positiven wendet, wieder nach Deutschland zurückkehren kann.
In Lubochna verliebt sich Mundek Buergenthal in die aus Göttingen stammende Gerda Silbergleit. Sie heiraten und ein knappes Jahr später, 1934, kommt Thomas Buergenthal zur Welt. Die Idylle ist nur von kurzer Dauer. 1939 wird ihre wirtschaftliche und soziale Existenz vernichtet. Den Buergenthals wird entschädigungslos das Hotel weggenommen, sie müssen Lubochna verlassen. „...; ein ganzes Land so schien es, hatte einer kleinen dreiköpfigen Familie den Krieg erklärt, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie Juden waren“ (S. 27). Ihrer Bürgerrechte beraubt, befindet sich die Familie Buergenthal als Staatenlose auf der Flucht Richtung Polen, in der Hoffnung, in Kattowitz ein Visum für England zu erhalten.
Die Entbehrungen und die schlimmen Wohnverhältnisse sind der Anfang vom Grauen. Der 1.9.1939 könnte der Glückstag der Familie Buergenthal sein, denn sie erhalten zwar ein Visum für England. Doch die aktuellen politischen Ereignisse, nämlich der Einmarsch Hitlerdeutschland nach Polen, machen den Glückstag zum tragischsten Tag der Familie Buergenthal. Eine Ausreise ist nicht mehr möglich. Ihre Flucht endet im Ghetto Kielce. Hier erleben sie den allmählichen Prozess der Vernichtung. Krankheiten, Hunger, Folter, willkürliche Hinrichtungen. Nach Auflösung des Ghettos 1942 gelingt es Mundek Buergenthal seine Familie und ein paar andere vor dem Abtransport in das Todeslager Treblinka zu retten. Der Selektion der Kinder kann Thomas Buergenthal mit sehr viel Glück und der Hilfe seines Vaters entgehen.
August 1944. Für die Buergenthals beginnt die Fahrt in das Vernichtungslager Ausschwitz. Die Familie wird auseinander gerissen. Mundek Buergenthal gelingt es, seinen Sohn der Selektion zu entziehen und ihn bei sich zu behalten.
Kahl geschoren und in Häftlingskleidung wird aus Thomas Buergenthal die Nummer B- 2930.
Die unfassbaren Schrecken des Holocaust werden hier Wirklichkeit. Stundenlange Zählappelle, kaltblütige Hinrichtungen und Folter, Aussortierung in den Tod, Hunger, Durst, Kälte, moralische Verfehlungen auch durch Mithäftlinge, ständige Todesängste und Todeskämpfe, vergebliche Hilferufe der Verzweifelten und Unrettbaren.
Nach einer Selektion sehen sich Mundek und Thomas Buergenthal nie wieder.
Im Winter 1944/45 wird das Lager geräumt. Es beginnt ein gnadenloser todbringender Marsch Richtung Sachsenhausen in Oranienburg. Für Thomas Buergenthal wird der Marsch zum Spiel . „Am Leben zu bleiben, war ein Spiel geworden, dass ich gegen die SS, Hitler, die ganze Tötungsmaschinerie der Nazis spielte“.
In menschlichem Anstand und Mut werfen auf Brücken stehende Tschechen ihnen auf dem Todesmarsch Brot zu und retten auf diese Art Leben. Mit sehr viel Glück und der Unterstützung von anderen Lagerinsassen wie insbesondere Odd Nansen gelingt es Thomas Buergenthal die Hölle bis zur Befreiung zu überleben. Jetzt erfolgt der Blick auf die Realität. „Ich wusch mich. Aber Wasser und Seife konnte mich nicht befreien von dem, was mich an das KZ erinnerte, die blaue Tätowierung an der Innenseite meines Arms.“ Thomas begleitet zunächst als Glücksbringer die polnische Armee. Er ist mittlerweile 12 Jahre und die anschließende Zeit im jüdischen Waisenhaus in Ottwuk mit dem reichhaltigen Essen und dem täglichen Gebet, das er nie vergißt, wird die schönste in seinem Leben.
Dank zahlreicher jüdischer Organisationen und dem Jewish Agency trifft er am 29.12.1946 in Göttingen seine Mutter wieder. Die Täterschaft geht nach dem barbarischen Völkermord zum Alltag über. Der Holocaust ist für sie Vergangenheit. Doch das Leiden hat bei Thomas Buergenthal tiefe Spuren von gefühltem Hass hinterlassen, denen er sich allmählich entziehen konnte.
Thomas Buergenthal verlässt den Kontinent und am 4.12.1951 beginnt mit der Einreise in die USA sein zweites neues Leben.
Thomas Buergenthals aus der Sicht seiner Kindheit fast sachlich ohne Bitterkeit erzählte Autobiografie „Ein Glückskind“ zeigt auf, wie schwer es auch nach Jahren des Schweigens ist, sich mit der barbarischen Vergangenheit des erlebten Holocaust auseinanderzusetzen. Lange, fast 60 Jahre, ist Buergenthal selbst sprachlos. Diese Vergangenheit ist für die Opfer des Völkermords der Nazis immer Gegenwart. Einzig für die Täter ist sie Vergangenheit. Die moralischen Verfehlungen und die Tragik des millionenfachen Leids wird nach dem zweiten Weltkrieg, wie Thomas Buergenthal es schreibt, nicht angesprochen. Niemand befragt ihn nach seinem Leben im KZ, nach seinem Leben während des Holocaust. Unter dem Schleier des Alltag die totgeschwiegene Barbarei.
Die Sinnsuche und die Frage nach dem Warum, die Richard Rubenstein mit „Gott ist tot“ beantwortet, treibt wie viele andere auch Thomas Buergenthal an, Deutschland und letztlich den Kontinent zu verlassen. Auch latente Ängste nach einer neuen „Shoa“, wie der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel treffend formuliert „Wir fürchten uns“, treiben nach Ende des Krieges viele Überlebende des Holocaust in die Emigration.
Für Thomas Buergenthal werden die Fragen nach Humanität, Recht und Frieden, nach moralischen Verfehlungen, nach Anstand und Mut einiger Weniger Bestandteil seines Lebens und Denkens. Er hat viel Glück und die richtigen Menschen an seiner Seite gehabt. Wie seine mutige und trotz des immer gegenwärtigen Schreckens einfallsreiche Mutter, wie seinen Vater und einige Lagerinsassen wie insbesondere Odd Nansen, dem späteren UNICEF Gründer, wie Freda, die Amerikanerin, die ihn in Prag sicher zum Transit verhalf und die er nie vergessen konnte.. Viel Glück in einer Zeit, wo das Überleben zum Spiel wird, wo ein Mensch kein Gesicht und keinen Namen mehr hat, wo ein Mensch zur bloßen Nummer B-2930 wird. Thomas Buergenthals zweites Leben, beginnt 1951 in den USA, in New York. Sein neues Leben widmet Buergenthal dem Völker- und Menschenrecht. Ein denkbare Weg, um zu versuchen, auch zukünftig einer barbarischen Realität entgegenzuwirken. „Ein Glückskind“, ein tiefer Blick in das zerbrechliche und barbarische Bewusstsein des Menschen und ein wahrhaft großes Plädoyer für Toleranz,Vernunft und gegen das Vergessen von Menschlichkeit.
Thomas Buergenthal, Ein Glückskind, Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Ausschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein zweites Leben fand, aus dem amerikanischen von Susanne Röckel, mit Abbildungen aus dem Privatbesitz von Thomas Buergenthal, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/M. 2007, 272 S., gebunden, ISBN 978-3-10-009652-4, 19,90 €
© Soraya Levin