Bye bye Germany, ein großer blonder Deutscher nimmt jenseits der Heimat Kurs auf die USA. Fast wirkt es wie eine Flucht vor der heiratswütigen Charlotte als der 26-jährige Günter Nitsch im April 1964 auf der Passagierliste des Transatlantikliners S.S. France steht. Oder ist es nur die zarte Flamme der Erinnerung an Bill Jenkins und an die Care Pakete, die den Jungen aus Königsberg bis ins Erwachsenenalter antreiben, den amerikanischen Traum zu leben?
Ein Traum, auf den Günter so gar nicht vorbereitet ist. Wie Millionen Auswanderer vor ihm, strandet er in New York. Nichts gegen New York. Nur Günter ist kein Sinatra. Das urbane Leben in dieser Betonwüste entspricht nicht mal annähernd seinen Vorstellungen und es zieht ihn weiter zu Bekannten an die Westküste.
Er findet keine Arbeit und entschließt sich nach New York zurückzukehren. Auch hier erweist sich die Arbeitsplatzsuche als kein Vergnügen. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bietet für Migranten keine unbegrenzten Jobs. Finanziell wird es eng, denn die Reserven sind fast aufgebraucht. Günter tritt immer wieder in die kulturellen Fettnäpfe, was die Arbeitsplatzsuche erschwert. Im Vorstellungsgespräch ist er overdressed. Mit den deutschen Zeugnissen kann niemand etwas anfangen und genauso wenig mit dem deutschen Umlaut „Ü“ in seinem Vornamen. Aus Günter wird Gunter.
Die Fallstricke scheinen überwunden und er bekommt seinen ersten Job. Erstaunt stellt er fest, dass die Arbeitswelt mit fünf Tagen Urlaub pro Jahr den Urlaubsball recht flach hält und der deutsche Sicherheitsbügel hier nicht greift. So schnell wie man einen Job bekommen hat, ist man ihn auch wieder los, beginnt die Suche wieder von vorn. Für Gunter entpuppt sich die hire-fire-Mentalität als Glücksfall. Arbeitslos ergattert er durch Zufall einen Job bei der deutsch-amerikanischen Industrie- und Handelskammer. Es ist ein positives berufliches Vorzeichen in der Nähe des sichtbaren Reichtums der Fifth Avenue und des Rockefeller Centers zu arbeiten. Innerhalb der kommenden Jahre klettert Gunter die Karriereleiter hinauf.
Seine Arbeit ist eine stetig neue Herausforderung. Hier ein Fuß in das berüchtigte farbige Harlem, während einer Geschäftsreise von einem Erdbeben wachgerüttelt und an anderer Stelle ein Gespräch mit Rassisten und Antisemiten. Hier wird polarisiert, hier gehören die Feindbilder zum Alltag. Hier erweisen sich die Hautfarbe und die Religion als Hemmschuh. Hier pöbeln Neofaschisten herum.
„The only good nigger is a dead nigger.“, Juden raus. Vorurteile und Stereotype überlagern die bürgerlichen Rechte und formen Bürger zu Feinden. An jeder Ecke diese unsichtbaren trennenden Mauern, die Gunter zur Weißglut treiben. Im Restaurant oder bei Konzerten bekommt er aufgrund seiner farbigen Begleitung einen schlechteren Tisch, die Taxis halten nicht für Farbige und selbst freistehende Wohnungen werden nicht an sie vermietet. Obwohl Gunter seinem Antirassismus treu bleibt, führt die mangelnde Akzeptanz seiner farbigen Freundin Victoria bei ihm zu der Frage, ob die Verbindung auf Dauer diese Anfeindungen bestehen kann. Eine Unsicherheit, die dazu führt, dass Gunter seine Victoria vor seinen Kollegen versteckt. Was fühlt man, wenn man einen Rückzieher aus der Beziehung macht? Gunter entdeckt Rechtfertigungsgründe für seine Loslösung von Victoria. Mal gibt sie zu viel Geld aus, mal nimmt sie ihr Studium nicht ernst, dann ist sie einfach zu dick, macht keinen Sport und – was gar nicht geht – heiratswütig.
Die Neue Welt ist zugestellt mit Rassismus. Selbst unter den Farbigen herrscht eine Diskriminierungshierarchie. Hispanics fühlen sich den Afro-Amerikanern überlegen.
Und obwohl New York über eine große jüdische Community verfügt, hält sich ein spürbar radikaler Antisemitismus. Die intolerante absurde Haltung ist wie ein Blätterwald durch den Gunter geht. Selbst in seinem engsten Freundeskreis und im Kollegium herrschen Stereotype vor.
Dieser gesellschaftliche Widerspruch schlägt mit Wucht auf Gunter ein. Die Stimmung der Farbigen kippt mit Martin Luther Kings Tod und Gunter sieht sich nun als "Weißer" bedroht und Farbige gehen ihm aus dem Weg. „Weiße“ Kollegen rümpfen hingegen die Nase, weil er sich mit Farbigen abgibt, vermeintliche Freunde distanzieren sich von ihm. Auf der anderen Seite wirkt sein Aussehen wie ein aufgedrückter Stempel. Holocaustüberlebende fragen ihn, wo er als Soldat gekämpft hat, obwohl er doch noch ein Kind war. Jüdische Frauen tanzen nicht mehr mit ihm, wenn sie erfahren, dass er Deutscher ist. Das Geräusch Deutscher zu sein, hallt bis in die USA nach und die Diskriminierungsangst treibt ihre Blüte. Gunter befürchtet Benachteiligungen aufgrund seines Deutschseins.
Es sind die jüdischen Professoren, die ihm den Zugang zum College ermöglichen, die sein Potential erkennen und ihn ermuntern sich bis zum Masterabschluss weiter zu qualifizieren. Ein sprunghafter Bildungsaufstieg nach der verpassten Chance während und nach dem Krieg in Deutschland.
Auch wenn New York niemals schläft, macht es mitunter trotz Arbeit und Collegebesuch einsam. Hin- und hergerissen zwischen seiner in Köln zurückgelassenen Jugendliebe Charlotte hält Gunter Ausschau nach einer Partnerin. Ein Frauenroadtrip zwischen Sehnsucht und verschmähter Liebe, zwischen alkoholsüchtigen, hysterischen und heiratswütigen weiblichen Wesen. Da ist die schlaue Rose, die zu sehr mit ihrer Ägyptologie beschäftigt ist und Gunters Sehnsucht nicht wahrnimmt. Janine kommt aus Haiti und ist in Begleitung ihrer Schwester, die Gunter mit ihren Kochkünsten dick füttern will. Brenda liebt Soap-Operas und dient nur als Notlösung gegen die Einsamkeit. Amalia, die neun Jahre ältere Kinderärztin, nervt Gunter mit ihrer Bemutterung, ihrer Prüderie und ihrem Rassismus. Es spricht nichts für sie und selbst der belanglose Altersunterschied von neun Jahren stört Gunter. Es ist nicht klar, warum er an ihr festhält und mit ihr sogar seine Freundin Victoria betrügt.
Das Zusammenspiel mit Victoria ist mittlerweile nicht mehr so unverkrampft. Der negative Blick auf sie und ihr Fordern nach fünf Jahren mehr zu wollen wie nur eine lose Beziehung endet in der Trennung. Eine Trennung, bei der der Kontakt zeitlebens nicht abreißt.
Woran Gunter sich bei all den Frauen erinnert, ist der nie verfliegende Duft von Charlottes L’air du temps. Sie ist die Messlatte, mit der sich alle Frauen vergleichen müssen. Ihm überkommen Zweifel. Er will zu Charlotte zurück und kündigt ihr seine Heimkehr an. Sein deutscher Freund Walter rät ihm davon ab, die amerikanischen Brücken abzubrechen. Und Gunter? Er macht einen Rückzieher und versetzt Charlotte.
Zweimal wird er dennoch in diesen zehn Jahren in seine Heimat zurückkehren. Zweimal wird er Charlotte wieder sehen. Beim ersten Treffen ist Gunter zwischen seinen Gefühlen hin- und hergerissen. Charlotte will ihn noch immer und es hätte vielleicht nur eines Augenblicks bedurft. Dieser ist verpasst und Gunter macht sich wieder aus dem Staub. Beim zweiten Treffen begegnet er ihr für einen Augenblick mit einem anderen Bewusstsein. Seine Charlotte, mittlerweile verheiratet und Mutter eines Sohnes. Für Minuten hält er ihr Kind im Arm. Für einen Moment spürt er die verpasste Chance in seinem Leben.
Verpasst ist auch der Moment den Vater noch einmal lebend zu sehen. Zurück bleibt nur die Erinnerung einer erstmaligen Umarmung beim letzten Abschied und die Tränen in den Augen des Vaters.
Zurück bleibt auch die Mutter. Allein und mit wenig Einkünften sowie der dicke mittlerweile sogar verheiratete Bruder.
Zuspätkommen und nicht ankommen. In den USA ist Gunter noch nicht angekommen. Der letzte Besuch zu Haus verdeutlicht diese Krise. Er möchte das selbstauferlegte Korsett des ewigen Singles aufbrechen. Ganze zehn Jahre dauert dieser Aufbruch für den eingefleischten Junggesellen. Ganze zehn Jahre, wo er am Ende seine Mary findet.
A SINGULAR EDUCATION ist ein zehnjähriger exzellenter Spiegel der Zeit der US- amerikanischen Gesellschaftsstruktur der 1970er Jahre, der zeigt, dass selbst im Land der Freiheit die Türen für viele zugestellt sind. Es ist ein schwieriger Beginn in der Fremde, begleitet von Einsamkeit, enttäuschten Vorstellungen und der Suche nach Liebesglück. Zehn Jahre begleiten wir Gunter auf seinem autobiografischen Weg zwischen dem Vietnamkrieg und Martin Luther King, zwischen einem bescheidenen wirtschaftlichen Anfang und einem fantastischen Bildungsaufstieg, zwischen traurigen Weihnachts- und Silvesterabenden, zwischen all den Liebschaften und den kulturellen Reibungspunkten, die mit viel Witz erzählt werden.
Es sind die durchgeschüttelten Höhen und Tiefen eines Lebensabschnitts in der Fremde, die Gunter wortgewandt mit Humor und Melancholie in einer bemerkenswerten Offenheit erzählt.
Höhen und Tiefen, die ein durchgehendes Motiv unterstreichen. Charlottes Nachkriegsduft L’air du Temps als Ausdruck der Sehnsucht nach Unbeschwertheit sowie die Suche nach Orientierung und einer Heimat für den entwurzelten Jungen aus Königsberg, der als Vertriebener in Deutschland scheinbar nie angekommen ist. Zuspätkommen und ankommen. Mit Mary ist Gunter in den USA angekommen.
Ein zehnjähriger exzellenter Spiegel der Zeit der US-amerikanischen Gesellschaftsstruktur der 1970er Jahre wortgewandt mit Humor und Melancholie in einer bemerkenswerten Offenheit erzählt.
Gunter Nitsch, A SINGULAR EDUCATION, A German Bachelor in New York (1964-1974), 452 Seiten, Dust Jacket Softcover, 2013 Bloomington, AuthorHouse, Price $23.00, ISBN 978-1-4918-3700-9
© Soraya Levin